Ein Nein ist nicht das Ende, sondern ein Anfang
Wo in anderen Parteien eine Handvoll Funktionäre (Parteivorstand der CSU) oder eine Hundertschaft ausgewählter Delegierter (Parteitag der CDU) entscheidet, werden in der SPD rund 450.000 Menschen in wenigen Wochen darüber abstimmen, ob es in Deutschland das dritte Mal in den letzten vier Wahlperioden eine Große Koalition zwischen CDU, CSU und SPD geben wird.
Dass es überhaupt wieder zu einer Neuauflage der „GroKo“ kommen könnte, liegt daran, dass das erste ernsthafte „Jamaika-Projekt“ auf Bundesebene, also eine Koalition aus Union, Grünen und FDP, vor allem an der Großmannssucht des neoliberalen Anführers und Showmans Christian Lindner gescheitert war.
1972 holte die SPD historische 45,8 % und wird mit Kanzler Willy Brandt erstmals überhaupt stärkste Partei. Und das bei einer Wahlbeteiligung von über 90 %. Die Politik war damals stark pointiert und polarisiert, getragen von begnadeten Politikern, denen man abnahm, dass sie für das stehen und einstehen, was sie öffentlich äußerten. Das hat die Menschen stark bewegt und an die Wahlurnen getrieben. Denn man konnte sich klar zwischen verschiedenen Politikansätzen und –richtungen entscheiden.
2017 erreichte die SPD mit 20,5 % ihr mit Abstand schlechtestes Ergebnis seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland. Und das trotz – oder gerade wegen der erstmals seit langem – sicherlich vor allem aufgrund des Erstarkens der AfD - wieder deutlich gestiegenen Wahlbeteiligung. Und obwohl die Sozialdemokraten im Koalitionsvertrag wichtige Themen wie den Mindestlohn, die Ehe für alle, die (leider handwerklich schlecht realisierte und damit wirkungslose) Mietpreisbremse, die Frauenquote und nicht zuletzt die abschlagsfreie Altersrente mit 63 nach 45 Beitragsjahren durchsetzen konnte, wurde dies vom Wähler in keiner Weise honoriert. Zu groß war der schon lange zuvor – unter Kanzler Schröder und seiner knallharten Agenda-Politik – einsetzende Vertrauensverlust der Menschen gegenüber den etablierten Parteien und insbesondere gegenüber der SPD.
Das Nein zu einer neuen GroKo unmittelbar nach der Wahl war UND ist richtig!
Es war daher völlig richtig, dass der Noch-SPD-Vorsitzende und Spitzenkandidat, Martin Schulz, unmittelbar nach der Wahl gesagt hat, dass es nach dem für die Noch-Volksparteien und insbesondere für die SPD desaströsen Wahlergebnis eine Neuauflage der GroKo nicht geben kann, will man den Wählerwillen nicht völlig ad absurdum führen. Klar, rechnerisch haben CDU, CSU und SPD gemeinsam immer noch eine absolute Mehrheit. Aber brachten die vorgenannten Parteien beispielsweise im Jahr 1972 zusammen noch fast 91 % der Stimmen auf die Waage, so waren es bei der Bundestagswahl im September 2017 gerade einmal noch 53,4 %.
Leider blieb Schulz sich selbst nicht treu. Sicherlich unter großem Druck – das muss man ihm zugute-halten – knickte er immer weiter ein, schlug kaum noch nachvollziehbare Haken und Volten und untergrub damit – sicherlich unbeabsichtigt – den letzten Rest an Vertrauen in die deutsche Sozialdemokratie.
Das in personeller Hinsicht – die SPD würde laut dem abschließenden Entwurf des Koalitionsvertrags sechs der wichtigsten Ministerien besetzen – sicherlich unerwartet gute Ergebnis ist in erster Linie nicht auf die besondere Stärke der SPD zurückzuführen, sondern viel eher auf die besondere Schwäche der in Dämmerung befindlichen Kanzlerin, die ganz offensichtlich den eigenen Machterhalt inzwischen ganz unverblümt über die Zukunft ihrer ebenfalls stark gerupften und gebeutelten Partei stellt.
Mit dem öffentlich ausgetragenen Streit zwischen Schulz und Noch-Außenminister Sigmar Gabriel und dem (Beinahe-?)Wortbruch Schulz‘, nicht in eine Regierung unter Merkel als Minister einzutreten, schlug die Parteispitze der SPD einen weiteren dicken Nagel in den für die SPD schon bereitstehenden Sarg.
Es ist noch nicht zu spät für die SPD – mit Mut und Mumm Nein sagen zu einer neuen GroKo!
Doch es ist noch nicht zu spät für die SPD. Es gibt noch eine Wahl. Die Verantwortung liegt nunmehr bei den SPD-Mitgliedern. Sie werden im März darüber entscheiden, ob die SPD in eine Koalition mit CDU und CSU eintreten wird oder nicht.
Ich appelliere an die SPD-Mitglieder, sich nicht den Mumm und den Mut nehmen zu lassen, einer erneuten GroKo eine Absage zu erteilen. Ein Nein zur GroKo wäre nicht das Ende der SPD, sondern es böte im Gegenteil eine echte Chance zu einem – dringendst benötigten und überfälligen – programmatischen und personellen Neuanfang.
Martin Schulz war ein Hoffnungsträger, als er seinen Hut als Kanzlerkandidat der SPD in den Ring warf. Er hat die Menschen anfänglich wirklich begeistert, weil man ihm abnahm, dass er weiß, was die Menschen im Lande bewegt. Leider blieb er dann aber aus unerklärlichen Gründen einen echten Plan schuldig, wie er dieses Land als Bundeskanzler anders, neu gestalten möchte. Es kam einfach nichts mehr, es waren immer wieder die gleichen, allgemeinen Floskeln zu hören. Und so fiel die anfängliche Euphorie, die Martin Schulz entfacht hatte, in sich zusammen wie ein Kuchenteig, dem man keine Hefe hinzugefügt hat.
Eine „Rundumerneuerung" der SPD ist unumgänglich
Der dickste Fehler war, sich von dem Nein zu einer neuen GroKo abbringen zu lassen. Diesen Fehler kann die Basis der SPD mit einem klaren „Nein“ zur GroKo korrigieren. Damit einhergehend, wäre eine tiefgreifende Erneuerung der Parteispitze unumgänglich. Und genau darin läge eine große Chance. Denn die SPD hat mit jungen, mutigen Menschen wie z.B. Kevin Kühnert und Marco Bülow viel zu bieten. Wenn man den Mut hat, diese Leute ans Ruder zu lassen.
Die SPD muss sich erneuern, sie muss sich eigentlich neu erfinden. Die Grundwerte, für die sie steht, sind unverändert richtig und wichtig. Aber die Politik, die sie insbesondere seit der Kanzlerschaft Schröders gemacht hat, stand nicht selten im Widerspruch zu diesen Grundwerten. Das heißt nicht, dass alles falsch war, was beispielsweise im Zuge der Agenda-Politik an Reformen und Veränderungen stattgefunden hat. Vieles war der Tatsache geschuldet, dass in der zweiten Hälfte der Kanzlerschaft Kohl keinerlei notwendige, ja überfällige Reformen mehr angepackt wurden. Es war, wie so oft schon, an der SPD, die heißen Eisen anzufassen und zu formen.
Aber die SPD hat es in der Folge versäumt, ungewollte Effekte der Reformen wieder einzufangen. Und sie hat es versäumt, sowohl die sozial Schwächeren als auch die Mittelschicht auf diesem Weg mitzunehmen. Es wurde nach Schröder nur noch an Symptomen herumgedoktert, aber es war bei der SPD weder ein echter Wille noch die Kraft zu spüren, systemische Veränderungen anzustoßen und durchzusetzen. Die Bürgerversicherung blieb und bleibt wohl ebenso ein Luftschloss wie eine Steuerreform, die Zerschlagung der Großbanken in Geschäftsbanken und Investmentgesellschaften oder die Einführung der Vermögensteuer.
Parteien und Politikrichtungen müssen wieder erkennbar und unterscheidbar werden!
Die Chance der SPD liegt daher in meinen Augen nicht ein einer erneuten Großen Koalition, in der die Inhalte auf vier Jahre hinaus festgelegt sind. In der erfahrungsgemäß nicht zu erwarten ist, dass sich einer der Partner an irgendwelche neuen gesellschaftlichen Visionen heranwagt. In der die Koalitionsdisziplin jeden politischen Diskurs im Keim erstickt. Nein, wir brauchen nicht noch einmal vier solcher Jahre.
Was die SPD, was aber auch die Politik in Deutschland insgesamt braucht, ist eine klare Unterscheidbarkeit politischer Konzepte und Visionen. Merkels Strategie der „asymmetrischen Demobilisierung“ hat die Grenzen zwischen konservativer Unionspolitik und progressiver sozialdemokratischer Politik nicht nur verschwimmen lassen. Inzwischen ist praktisch nicht mehr erkennbar, worin sich die beiden großen Parteien überhaupt noch unterscheiden und wer die „sozialdemokratischere Politik“ betreibt.
Insofern muss man Alexander Dobrindt, von dem sonst nur sehr selten konstruktive Denkanstöße zu vernehmen sind, ja fast schon dankbar sein für seine Forderung nach einer „konservativen Revolution der Bürger“. Der Impetus, der sich dahinter verbirgt, ist der Wunsch, dass die Union Kopf einer konservativen Politikbewegung werden möge. Hier hat Dobrindt vermutlich die Beispiele aus Frankreich (Macron) und Österreich (Kurz) vor Augen.
Genau hierin liegt die Chance für die SPD. Sie muss einen genauen Gegenentwurf zur Dobrindt’schen „konservativen Revolution“ in die Waagschale werfen. Sie muss eine neue, moderne Mitte-Links-Bewegung starten und sich an deren Spitze stellen. Man hat an dem kurzen Aufflammen der Begeisterung für die SPD und Martin Schulz im vergangenen Jahr gesehen, dass viele Menschen sich genau eine solche Bewegung wünschen und sich dafür auch begeistern lassen würden. Aber dann darf es nicht nur beim Entfachen des Feuers bleiben, sondern es müssen konkrete Taten folgen. Das fehlte bei Schulz fast völlig. Kein Grund, hier nicht noch einen weiteren Versuch zu starten.
Das Mantra "GroKo oder Neuwahlen" ist nicht alternativlos!
Als Alternative zu Neuwahlen stünde im Übrigen immer noch die Möglichkeit einer Minderheitsregierung im Raum. Klar, dass die Kanzlerin, die klare Positionierungen in den rund zwölfeinhalb Jahren ihrer Amtszeit scheute wie der Teufel das Weihwasser, diese Option fürchtet. Müsste sie doch zunächst einmal überhaupt für irgendetwas politisch stehen und hierfür dann auch noch Mehrheiten finden, die nicht in einem Koalitionsvertrag schon vorher feststehen. Dennoch, oder gerade deshalb, wäre eine Minderheitsregierung ein durchaus lohnenswerter und belebender Versuch, unsere Demokratie aus der hausgemachten Krise zu führen. Es steht jedoch zu befürchten, dass die Kanzlerin eher Neuwahlen herbeiführt, als diesen bislang weitgehend unerprobten Weg zu gehen.
Unsere Demokratie lebt vom politischen Wettbewerb – die GroKo muss die Ausnahme bleiben und nicht der Regelfall
Unsere Demokratie lebt vom politischen Diskurs, vom Wettbewerb verschiedener Konzepte, Gesellschaftsentwürfe und Visionen. Die etablieren Parteien, dazu zähle ich CDU, CSU, SPD, FDP und Grüne, haben bzw. hatten ihre „Markenkerne“, deretwegen man sie wählte oder eben ablehnte. Diese „Markenkerne“ sind jedoch sowohl der Union als auch der SPD inzwischen fast völlig abhandengekommen.
Der Hauptgrund hierfür ist, dass die Große Koalition, die in unserem Demokratiemodell immer eine Ausnahme („ultima ratio“) bleiben sollte, unter Merkel zum Regelfall gemacht wurde. Hierdurch haben sich die Unterschiede zwischen den beiden großen, staatstragenden Parteien über die Jahre hinweg völlig verwischt und geglättet, eigenständige Profile sind kaum noch erkennbar.
Wenn man als Wähler früher oder später das Gefühl bekommt, dass man eigentlich keine echte Wahl mehr zwischen den etablierten Kräften hat, dann wendet man sich - wenn man den Wahlen nicht gleich ganz fern bleibt - extremeren Ausrichtungen zu. Umso erstaunlicher ist, wie überrascht so mancher getan hat, als die AfD sich auf Anhieb als drittstärkste Kraft im Bundestag etabliert hat und in manchen Gegenden, vor allem im Osten der Republik, sogar stärkste Kraft wurde.
Ein mit schauspielerischen Einlagen garnierter „politischer Mini-Wettbewerb“ inklusive der üblichen Personaldebatten nur für ein paar Wochen oder wenige Monate während Sondierungs- und Koalitionsgesprächen ist einfach zu wenig - viel zu wenig für eine leb- und wehrhafte Demokratie. Weitere vier Jahre Verwalten statt Regieren in einem engen Koalitionskorsett erst recht.
Daher, und damit schließe ich den Kreis zur Überschrift dieses Kommentars, sollten die SPD-Mitglieder den Mut haben, gegen eine neue GroKo zu stimmen. Denn ein Nein zu einer erneuten Großen Koalition ist nicht das Ende der SPD. Es könnte ihr vielmehr einen echten Neuanfang bereiten. Ich hoffe, die Mitglieder schenken dieser ältesten Partei Deutschlands durch ein Nein zur GroKo diese womöglich letzte Chance.
Jean-Marie Leone
SPD Puchheim
Fraktionsvorsitzender im Stadtrat
Weitere Statements folgen in Kürze.