Sonntag, 24. September 2017
Kommentar von Jean-Marie Leone
Sprecher der SPD-Stadtratsfraktion in Puchheim
Sicherlich: Dieser 24. September 2017 ist ein schweres Erdbeben in der brüchig gewordenen politischen Landschaft in Deutschland. Es ist entsetzlich, dass 72 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs eine Partei rund 13 % der Stimmen erhält, unter deren Kandidatinnen und Kandidaten sich Personen tummeln, die die Bundesrepublik, unseren Rechtsstaat und das Grundgesetz ablehnen oder in wesentlichen Zügen zum Nachteil von Ausländern, Flüchtlingen und anderen Minderheiten verändern wollen. Die sich offen völkisch-national äußern, wobei die Grenzen zu Rassismus und Diskriminierung teilweise völlig verschwimmen.
Aber welche Erkenntnisse ziehen wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten aus diesem Erdbeben? (Was) lernen wir daraus?
Immerhin, der erste Schritt ließ nicht lange auf sich warten: Kaum waren die Wahllokale geschlossen und die ersten Prognosen auf den Bildschirmen, setzte der tapfere, aber glücklose Martin Schulz ein unmissverständliches Zeichen: Die SPD wird in die Opposition gehen.
Dies ist nachvollziehbar. Und in der Sache auch völlig richtig. Ungut daran ist nur, dass Schulz vor der Wahl angekündigt hatte, die Parteimitglieder über diese Frage abstimmen zu lassen. Auch, wenn im Vorfeld dieses denkwürdigen Wahlsonntags die Vorbehalte gegen eine weitere Neuauflage der „GroKo“ in Berlin innerhalb der Partei quasi greifbar waren, und auch wenn man folglich kein Prophet sein muss, um abschätzen zu können, wie eine solche Mitgliederabstimmung nach dieser krachenden Wahlniederlage und all den „großkoalitionären“ Spannungen der letzten Monate wohl ausgehen würde – guter Stil ist das nicht.
Allerdings muss man Schulz dabei auch zugutehalten, dass er seit seiner Nominierung und der Übernahme des Parteivorsitzes eine ungeheure Last zu tragen hatte, an der man auch zerbrechen kann. Es spricht absolut für ihn, dass er trotz der niederschmetternden Umfrageergebnisse der letzten Zeit nicht aufgesteckt hat, sondern sich bis zum Schluss im wahrsten Sinne des Wortes abgerackert hat.
Wenn man ihm eines womöglich vorwerfen kann, dann die Tatsache, dass er den Hype im Nachgang zu seiner Nominierung nicht wirklich ausgenutzt hat. Als Kanzlerkandidat und Parteivorsitzender hätte er – trotz oder gerade wegen der schwierigen Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen – keine Rücksicht nehmen dürfen auf irgendwelche Befindlichkeiten oder auf übertriebene Parteiräson. Er hätte mit Mut und Entschlossenheit ur-sozialdemokratische Pflöcke in den Boden rammen können – und vermutlich auch müssen. Wer hätte ihn aus den eigenen Reihen daran hindern können oder wollen?
Viele Menschen waren in dieser Phase offen für Schulz und die SPD, neugierig, was dieser Mann, der in seinem Leben schon einige Tiefen durchlebt hat, Neues zu bieten hat. Was u.a. in Vilshofen beim Politischen Aschermittwoch der BayernSPD so hoffnungsvoll und energisch begonnen hatte, fand in der Folge keine Weiterführung. Die Kernaussagen wiederholten sich gebetsmühlenartig, blieben aber sehr lange – zu lange – im Vagen. „Jetzt muss doch endlich was Konkretes, was Neues kommen!“ – solche Aussagen hörte man nicht nur im hiesigen Ortsverein, sondern quer durch die ganze Partei. Doch es kam wenig. Zu wenig. Und dies viel zu spät.
Es stellt sich hier auch die Frage, ob Martin Schulz in dieser Phase wirklich gut beraten war bzw. wurde. Man hatte das Gefühl, dass er ziemlich allein gelassen wurde mit dieser Last. Wenig hilfreich waren hierbei sicherlich auch so manche Aussagen wie z.B. von seinem Vorgänger als Parteichef, Sigmar Gabriel. Auch das seltsame Verhalten von Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder hat Martin Schulz und der SPD insgesamt durchaus geschadet. Leider muss man hier aber ehrlicherweise auch die von Schulz selbst verschuldete Debatte um mögliche Kompetenzüberschreitungen bei Beförderungen in seiner Funktion als EU-Parlamentspräsident mit aufführen.
Geschadet hat uns all dies vor allem deshalb, weil es das ohnehin in immensem Ausmaß verlorengegangene Vertrauen der Menschen in die SPD weiter untergraben hat. Weil es der AfD und ihrem gegen das Establishment gerichteten Mantra voll in die Karten gespielt hat.
Apropos AfD: Die 13 % sind verdammt bitter. Aber, mit Verlaub: Es hätte schlimmer kommen können. Viele Menschen in diesem Land haben – und anders kann man das Wahlergebnis nicht ernsthaft interpretieren – das Vertrauen in die Volksparteien CDU/CSU und SPD in einem bislang nie dagewesenen Ausmaß verloren. Der überschäumende Geifer der zahllosen enttäuschten Wutbürger ergoss sich fast ungehemmt auf die Marktplätze der Republik und vor allem in die Sozialen Medien.
Und dennoch entschlossen sich – bei erfreulich hoher Wahlbeteiligung – ungefähr 87 % der aktiven Wählerinnen und Wähler dafür, ihre Unzufriedenheit nicht in Form von Stimmen für die AfD zum Ausdruck zu bringen. Sie wählten stattdessen die etablierten sogenannten „Kleinen“ wie FDP, Grüne und Linke. Insofern ist dieses Ergebnis ein ehrlicher, aber sozusagen wenigstens auch ein weit überwiegend intelligenter Denkzettel für Union und SPD.
Die SPD hat mit Schulz‘ Ansage, in die Opposition zu gehen, zumindest eine erste Lehre aus diesem Debakel gezogen. Klar ist, dass dies nicht die einzige Erkenntnis bleiben kann und darf. Vielmehr muss es jetzt eine ehrliche, ernstgemeinte und ergebnisoffene Diskussion über die zukünftige Ausrichtung der Sozialdemokratie in Deutschland geben. Wir müssen schleunigst neue Wege gehen, um das verlorengegangene Vertrauen der Menschen zurückzugewinnen.
Eine gute Chance für diese Katharsis, den Prozess der Selbstreinigung also, bietet die ungleich schwierigere Lage, in die die Union mit ihrem wahrhaft desaströsen Ergebnis geraten ist. Es ist unverkennbar, dass Angela Merkel ihren Zenit nicht nur lange schon überschritten hat, sondern von den Wählerinnen und Wählern eigentlich abgewählt wurde. Und mit ihr übrigens auch Horst Seehofer, der allergrößte Mühe haben dürfte, diesem beispiellosen Gewitter, das die erfolgsverwöhnten Christsozialen in Bayern gnadenlos getroffen hat, zu entrinnen. Auch hier scheint das politische Ende einer durchaus respektablen, wenn auch nicht immer logisch erklärbaren Karriere in Sicht zu sein.
Die ganze Last hat Martin Schulz jedenfalls mit einer einzigen Aussage auf die stark angeschlagene Kanzlerin geschoben. Sie muss nun zusehen, wie sie ein Vierer-Bündnis gemeinsam mit der zunehmend unberechenbaren CSU, der wiedererstarkten FDP und den überraschend robusten Grünen zusammenzimmert - und dies bei den nunmehr zu erwartenden, heftigsten Stürmen aus den eigenen Reihen (vor allem von denen, die es immer schon besser gewusst haben, aber selbst nichts auf die Reihe bekommen haben).
Die Union wird sich in dieser Konstellation zweifellos enorm verwinden und verbiegen müssen. Sie wird in erheblichem Ausmaß Macht und Einfluss an ihre beiden mutmaßlichen künftigen Koalitionspartner verlieren. Und sie muss alles daran setzen, den riesigen, giftigen Stachel, den ihr die AfD mit Wucht ganz tief in die rechte Flanke gebohrt hat, schnellstmöglich zu entfernen. Dazu werden CDU und CSU weit (die CSU noch weiter) nach rechts rücken müssen, was jedoch mit Teilen der FDP und insbesondere mit den Grünen eher einer Quadratur des Kreises als dem Aufbau einer tragfähigen gemeinsamen politischen Basis gleichkommt. Und was der ohnehin enorm angestiegenen Polarisierung in unserer Gesellschaft noch weiter Vorschub leisten wird.
So seltsam es klingen mag: Genau dies ist die Chance, die sich der SPD nunmehr bietet. Hält Schulz Wort, wird die SPD in den kommenden vier Jahren die Opposition im Bundestag anführen. Sie muss – anders als in den vergangenen acht Jahren GroKo – keine Rücksicht mehr nehmen auf Koalitionsvereinbarungen und auf Befindlichkeiten des Koalitionspartners. Sie muss sich nicht mehr aufreiben zwischen Verantwortung, Pflichtbewusstsein und Überlebenskampf. Sie kann, nein sie muss diese Zeit nutzen, um sich neu zu erfinden. Um ein neues Zielfoto einer modernen, sozialdemokratisch geprägten Gesellschaft zu entwickeln und dies den Menschen in diesem Lande als erkennbare, abgrenzbare Perspektive und Alternative anzubieten.
Ob Martin Schulz derjenige sein kann, der auf diesem Weg vorangeht, wird sich zeigen. Einerseits würde ich es mir wünschen, weil er in seiner Person viele Eigenschaften verkörpert, die ich schätze und die wir auf diesem Weg dringend brauchen werden: Bodenständigkeit, Nahbarkeit, Menschlichkeit, Ehrlichkeit, Bescheidenheit, Kampfeswillen. Andererseits lastet diese Niederlage natürlich schwer auf seinen Schultern. Denn im Endeffekt hat auch er das Vertrauen der Menschen in die Sozialdemokratie nicht nachhaltig zurückgewinnen können.
Der Gang in die Opposition, die künftige Ausrichtung der SPD, der Parteivorsitz – Themen, über die letztendlich die Mitglieder zeitnah entscheiden sollten. Jede Zäsur beinhaltet auch eine Chance. Diesmal müssen wir sie nutzen. Gemeinsam. Mutig. Zuversichtlich.