Kommentar zur Debatte über die Aussagen von Kevin Kühnert im Interview mit der "Zeit"

Jean-Marie Leone, SPD Puchheim

Puchheim, 19. Mai 2019

Kommentar von Jean-Marie Leone, Sprecher der SPD-Fraktion im Rat der Stadt Puchheim

Lange habe ich überlegt, ob ich zu dem Thema etwas schreibe oder nicht. Natürlich war Kevin Kühnerts Vorstoß im Interview mit der „Zeit“ überraschend und auf den ersten Blick heftig. Aber warum eigentlich? Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, der die Berechtigung für das Tragen des „S“ im Namen von immer mehr Menschen im Lande abgesprochen wird, ist eine Partei mit sozialistischen Wurzeln. Mehr noch: Sie ist die Partei des demokratischen Sozialismus in Deutschland! Zumindest behauptet sie das mit Blick auf ihre „stolze Tradition“ in ihrem Hamburger Programm, beschlossen auf dem Bundesparteitag am 28.10.2007 (Quelle: Hamburger Programm der SPD).

Die Grundidee des demokratischen Sozialismus' wurde im Godesberger Programm der SPD von 1959 als Leitlinie sozialdemokratischer Politik festgeschrieben. Dort heißt es:

„Wir widerstehen jeder Diktatur, jeder Art totalitärer und autoritärer Herrschaft; denn diese missachten die Würde des Menschen, vernichten seine Freiheit und zerstören das Recht. Sozialismus wird nur durch die Demokratie verwirklicht, die Demokratie durch den Sozialismus erfüllt. […] Die Sozialisten wollen Freiheit und Gerechtigkeit verwirklichen […].“

Iring Fetscher, ein bekannter, 2014 verstorbener deutscher Politikwissenschaftler, schrieb 1972 in einem Artikel der „Zeit“ zu der Frage, ob der demokratische Sozialismus auch die Möglichkeit einer Sozialisierung von Privateigentum und –vermögen beinhalte, um die Sozialbindung des Eigentums zu garantieren, Folgendes:

„Demokratischer Sozialismus will also die Demokratie konkretisieren, indem er einen angemessenen Lebensunterhalt für alle, gleiche Bildungschancen und Mitbestimmung in allen gesellschaftlichen Bereichen sichert. Wie steht es aber mit der Eigentumsordnung? Bedeutet Sozialismus nicht allemal "Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln"?

[…]

Auf vielen Sektoren der Wirtschaft gibt es bereits marktbeherrschende Unternehmungen oder eine so kleine Zahl von Selbständigen, dass diese auch ohne schriftliche Vereinbarungen eine gemeinsame Verkaufsstrategie verwirklichen können. Der demokratische Sozialismus geht davon aus, dass es notwendig und in der Regel auch möglich ist, die Sozialbindung des Eigentums, die in unserem Grundgesetz festgelegt ist, durch entsprechende gesetzliche Bestimmungen sicherzustellen. Derartige Gesetze (zum Beispiel gegen die Verschmutzung von Luft und Wasser) werden das Eigentumsrecht, soweit es auch ein "Recht zu missbrauchen" war, sicher einschränken, aber sie heben es nicht auf. Erst dann und nur dort, wo sich solche gesetzliche Regelungen als unzulänglich erweisen sollten, um die Sozialbindung des Eigentums sicherzustellen, würde die Sozialisierung als ein mögliches und legitimes Mittel erwogen werden müssen.“

(Quelle: Artikel aus die "Zeit" vom 3. November 1972)

Wer dies aufmerksam liest, wird feststellen, dass hier nicht einem Staatskommunismus à la Sowjetunion oder DDR das Wort geredet wird. Vielmehr bleibt der Marktwirtschaft, deren Sinnhaftigkeit auch Kevin Kühnert in keiner Weise bestritten hat, genügend Raum.

Aber - und das ist der Kern von Kühnerts Botschaft – dort, wo die freien Kräfte des mehr oder weniger ungezügelten Marktes den Gedanken der Sozialbindung des Eigentums ad absurdum führen, dort, wo eine gerechte, eine angemessene Teilhabe derer, die letztlich die Gewinne durch ihre Produktivität erwirtschaften, der Gewinnmaximierung der Eigentümer zum Opfer fällt, dort muss staatliche Intervention erlaubt sein. Besser gesagt, dort ist sie sogar dringend und zwingend geboten. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und viele Urteile des Bundesverfassungsgerichts bestätigen, dass dies durchaus auch zulässig, wenn nicht sogar geboten wäre. Denn die Wahrung und notfalls auch die Durchsetzung der Sozialbindung des Eigentums sind Aufgaben, die das Grundgesetz dem Staat eindeutig zuweist.

Die Wahrung des sozialen Friedens in unserem Land sollte für die SPD immer die oberste Maxime sein. Dies war stets der rote, vermeintlich unzerreißbare Faden, der alle Grundsatzprogramme dieser Partei durchzogen hat.

Es ist mehr als befremdlich, dass das Aussprechen solcher Gedanken durch einen jungen, mutigen Mann wie Kevin Kühnert im eigenen politischen Lager zu Reaktionen wie der von Johannes Kahrs führt, der sich via Twitter bemüßigt sah zu fragen, was für ein „Zeug“ Kühnert denn „geraucht“ habe, um aus Kahrs‘ Sicht zu so abstrusen Thesen zu kommen. Möglicherweise wäre es nicht schlecht, wenn Herr Kahrs mal etwas „Bewusstseinserweiterndes“ rauchen würde, denn dann würde er vielleicht verstehen, was Kevin Kühnert eigentlich angesprochen hat in diesem Interview in der Zeit: Nämlich die Erinnerung an die Sozialbindung des Eigentums, einem Kernpunkt unseres Grundgesetzes und auch der Bayerischen Verfassung, der seit Jahrzehnten aber – auch von SPD-Politikern und SPD-Politik begünstigt - zunehmend in Bedrängnis geraten ist. Bis hin zu dem Punkt, dass man diese verfassungsmäßige Verpflichtung heute in vielen Bereichen unserer Marktwirtschaft gar nicht mehr oder nur noch marginal wahrnehmen kann.

Die Reaktionen Kahrs‘, aber auch Sigmar Gabriels und anderer mehr oder weniger prominenter SozialdemokratInnen sprechen Bände über den Zustand und die Ausrichtung „meiner“ SPD im Jahre 2019: Wir sind allenfalls noch ein – zumeist wenig wirkungsvolles – Korrektiv allzu marktkapitalistischer Umtriebe. Wir haben es als SPD mit zugelassen, dass früheres Volkseigentum privatisiert wurde. Und mit ihm die Gewinne daraus. Die Lasten (aus Investitionen) und viele Verluste hingegen (z.B. aus dem Banksektor, aber auch im Bereich der Post und der Bahn) wurden in erheblichen Teilen aber sozialisiert.

Es kommt nicht von ungefähr, dass sich viele SPD-Wählerinnen und –Wähler von dieser Art der Politik abgewendet haben. Sie finden in der SPD nicht mehr ihre politische Heimat, ihre politische Vertretung. Sie sehen nur, dass wenige hierzulande immer reicher werden und viele – zumindest relativ gesehen – immer ärmer, auch wenn der Einzelne im Moment finanziell noch gut über die Runden kommen mag. Die Schere, und das belegen viele Untersuchungen und Studien, geht in Deutschland immer weiter auseinander. Und dazwischen entsteht immer mehr Raum für sozialen Unfrieden, für Gerechtigkeits- und Neiddebatten, die letztendlich dann zumeist auf dem Rücken der Ärmsten ausgetragen werden. Und die bestes Futter für Parteien ganz rechts und links im deutschen Politikspektrum darstellen.

Man muss keine radikalen Forderungen wie die Verstaatlichung von BMW aufstellen, die Kühnert im Übrigen von seinen Interviewpartnern der „Zeit“ in einer meiner Meinung nach dieser renommierten Zeitung unwürdigen Art und Weise untergeschoben und dann zur medien- und verkaufswirksamen Schlagzeile hochstilisiert wurde. Es reicht, wenn es zunächst einmal wieder erlaubt ist, solche grundlegenden Fragen überhaupt in die Diskussion einzubringen, ohne dafür in eine Ecke mit Stalin oder Honecker geschoben zu werden. Und das aus den eigenen Reihen.

Der verbale Ausfall Kahrs‘ offenbart eine Denke innerhalb weiter Führungskreise in der SPD, die, wie es Tessa Högele, Redakteurin der „Zeit“ in einem Artikel vom 3. Mai 2019 treffend ausdrückt, dazu geführt hat, dass die SPD „zu einer PD verkommen“ ist, „einer Partei Deutschlands, über deren sonstigen Inhalt sich niemand mehr so richtig sicher ist.“ (Quelle: Artikel aus ze.tt, dem Online-Magazin der "Zeit")

Es ist absurd und beschämend, dass sich einzelne Parteimitglieder wie der Präsident des SPD-Wirtschaftsforums, Michael Frenzel, sogar dazu versteigen, einen Parteiausschluss von Kevin Kühnert zu fordern (Quelle: Artikel aus der "Welt"). Hieran sieht man, wie verkümmert und verfault in manchen SPD-Funktionärsköpfen die Gedanken an ebenso alte wie zeitlose, in unserem gerade 70 Jahre alt werdenden Grundgesetz verankerten Grundwerte inzwischen sind. Schön, dass es auch andere wie den stellvertretenden Parteivorsitzenden Ralf Stegner gibt, die Kühnert zur Seite springen. Wenn auch, was mich persönlich stört, mit dem Duktus, dass ein „Juso-Vorsitzender“ so etwas unbedingt sagen dürfte. Dies wertet Kühnerts Beitrag in gewisser Weise auch ab. Zählen Gedanken eines Juso-Vorsitzenden, der sich sehr viele Gedanken über den Zustand unserer Gesellschaft macht, denn weniger als die „älterer“ Parteimitglieder jenseits des Juso-Alters?

Wie dem auch sei, ich fordere kein Parteiausschlussverfahren gegen Leute wie Kahrs und Frenzel. Aber diese Personen sollten sich selbst einmal Gedanken darüber machen, ob sie eigentlich noch in der richtigen Partei sind. Hier hätte ich mir auch ein Machtwort von Andrea Nahles gewünscht. Und zwar pro Kevin Kühnert und der von ihm angestoßenen, in jedem Fall zulässigen und – aus sozialdemokratischer Sicht – sogar überfälligen Debatte.

Viele in unserem Land können beispielsweise ihr Menschenrecht auf eine angemessene, bezahlbare Wohnung nicht mehr wahrnehmen oder laufen zumindest Gefahr, es bald nicht mehr wahrnehmen zu können. Währenddessen werden vor allem institutionelle Wohnungsunternehmen im Zuge örtlicher Oligopol- oder Monopolbildungen durch Spekulation mit Grundstücken und Immobilien unermesslich reich. Und zwar mit dem Geld unzähliger Mieterinnen und Mieter, die kaum noch wissen, wie sie angesichts der horrenden Mieten ihren Lebensunterhalt noch bestreiten sollen. Hier braucht es radikalere Lösungen als die bislang von der SPD vorgeschlagenen bzw. – oftmals leider nur halbherzig – durchgebrachten Maßnahmen wie z.B. die weitgehend wirkungslose und handwerklich schlecht umgesetzte Mietpreisbremse.

Eine Enteignung ist im Bereich Grundstücke und Immobilien bereits in vollem Gange. Aber eben nicht die der institutionellen Großunternehmungen (vulgo: Immobilienheuschrecken), sondern die der Menschen in diesem Lande, aus deren Sicht mit Grund und Boden wie mit Luxusverbrauchsgütern gehandelt und spekuliert wird. Und für die Eigentum zu Wohnzwecken, aber auch das Anmieten von Wohnräumen in attraktiven Ballungsräumen inzwischen in unerreichbar weite Ferne gerückt ist.

Andrea Nahles enttäuscht hier als SPD-Vorsitzende meines Erachtens ein weiteres Mal. Es wird immer offensichtlicher, dass visionäre Diskussionen in der SPD von ihr nicht erwünscht sind. Es soll viel lieber der inzwischen doch sehr klägliche Status Quo abgesichert werden. „Nur nicht anecken!“, scheint die Devise zu sein. Dabei ist diese Einstellung in meinen Augen ein Hauptgrund für den Niedergang der SPD in den letzten zehn bis 15 Jahren.

Ich kann es nicht beschönigen: Die SPD 2019 ist in meiner persönlichen Wahrnehmung in ihrer Führung weitgehend stil- und mutlos. Es sind Leute wie Kevin Kühnert, die der in weiten Teilen konsternierten und enttäuschten Basis Mut machen und daran erinnern, wofür das immer öfter vermisste „S“ im Parteinamen steht. Wir können Kevin Kühnert nur ein ausreichend breites Kreuz wünschen und ihn darin bestärken, in der SPD wieder über ganz grundsätzliche Dinge zu sprechen, zu diskutieren und auch zu streiten.

Es gibt wenig, in dem ich einem Helmut Schmidt widerspreche. Aber seinen Ausspruch, dass zum Arzt gehen solle, wer Visionen hat, den würde ich doch gerne abwandeln in „Wer Visionen hat, soll Führungsverantwortung in der SPD übernehmen!“. Denn die meisten anderen scheinen sich mit dem derzeitigen Zustand der einst stolzen deutschen Sozialdemokratie abgefunden zu haben. Ein „Weiter so!“ kann und darf es aber nicht geben. Es muss wieder klar erkennbar werden, warum jemand die SPD wählen kann und soll. Oder eben nicht. Sonst verschwindet die SPD bis auf Weiteres in der Bedeutungslosigkeit.

Jean-Marie Leone
SPD Puchheim