"Totgesagte leben länger". Dieser Spruch trifft nicht nur mehr oder weniger regelmäßig auf den TSV 1860 München zu, sondern auch auf die Sozialdemokratische Partei Deutschlands.
Nachdem die Umfragewerte noch im Januar dieses Jahres bislang nicht gekannte Tiefen erreichten - nicht nur bundesweit, sondern auch und vor allem in Bayern -, mischte der "Orkan Schulz" die deutsche Politik- und Parteienlandschaft kräftig auf.
Mit einem gewaltigen Ruck liegt die SPD im Bund nach der Kür von Martin Schulz zum SPD-Kanzlerkandidaten und designierten Parteivorsitzenden plötzlich fast gleichauf mit der zuvor meilenweit enteilten Union. In der Frage, wen sich die Deutschen als künftigen Bundeskanzler wünschen, hängte Schulz die amtierende Kanzlerin sogar deutlich ab. Die SPD hat allerorten Neueintritte zu verzeichnen und es herrscht eine lange nicht mehr gekannte Aufbruchstimmung in der gesamten Partei.
Natürlich ist das alles erst einmal sehr erfreulich aus Sicht der in den letzten Jahren doch arg gerupften und gebeutelten Sozialdemokratie. Aber es ist nur eine Momentaufnahme. Und die in Schulz gesetzten Hoffnungen und Erwartungen sind riesig. Und es wird viel Kraft kosten, die Menschen in diesem Land nicht zu enttäuschen.
Um es vorwegzunehmen: Martin Schulz kann es schaffen, Angela Merkel bei der Bundestagswahl im September dieses Jahres als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland abzulösen.
Nach einer aktuellen Umfrage wünschen sich zwei Drittel der Deutschen ein Ende der Amtszeit Merkels. Gleichzeitig erfreut sich Schulz einer sehr hohen Beliebtheit, was sicherlich nicht nur auf seine hervorragende Arbeit als Präsident des Europäischen Parlaments, sondern auch auf seine von Höhen und Tiefen durchsetzte Biographie zurückzuführen ist:
Ehemaliger Alkoholiker, Inhaber eines Buchladens, Bürgermeister einer beschaulichen Stadt in der Nähe von Aachen, Präsident des Europäischen Parlaments - es dürfte nur ganz wenige hierzulande geben, die einen so bewegten und bewegenden Lebenslauf vorweisen können.
Dass rechte Kreise bis tief hinein in die AfD ihm seinen Lebenslauf vorwerfen, zeigt nur, dass sie Schulz längst als Gefahr für den eigenen Erfolg erkannt haben und nunmehr durch solche Schmutzkampagnen versuchen, den SPD-Kanzlerkandidaten zu diskreditieren. Es sind aber durchsichtige Manöver, die in der Bevölkerung nicht verfangen werden und die auf diejenigen zurückfallen, die sie lancieren.
Denn genau das, ein Mann des Volkes und aus dem Volk zu sein, der in seinem Leben die Sonnen-, aber auch die Schattenseiten kennenlernen musste und durfte, macht ihn zu einem Kanzlerkandidaten, der offensichtlich für alle Bevölkerungsschichten in unserem Lande wählbar ist.
Die Gefahr, die darin liegt, wird sein, dass Schulz innenpolitisch ein "Blatt" ist, das noch beschrieben werden will. Und zwar - zunächst einmal - von jedem einzelnen in seiner eigenen Art und Weise. Er wird aber nicht jeder und jedem gerecht werden können und wollen.
Auf europäischer Ebene hat er viele Akzente gesetzt und immer wieder mit Verve für ein friedliches, geeintes und starkes Europa gekämpft. Wie kein anderer vor ihm hat er das Europäische Parlament aus einer "Statistenrolle" in eine aktive Gestaltungsrolle geführt und so den Druck auf die bisweilen sehr undurchsichtig und autokratisch agierende Europäische Kommission erhöht, das Handeln der EU zu demokratisieren und für die Menschen transparenter zu gestalten.
Auf nationaler Ebene muss Schulz sein Profil noch schärfen. Als früherer Bürgermeister der nordrhein-westfälischen Kleinstadt Würselen weiß er sehr genau, wo die Menschen in Deutschland "der Schuh drückt". Chancengerechtigkeit und Teilhabe sind ihm äußerst wichtige Werte, das hat er immer wieder betont.
Wenn er dieses Wissen und seine Erfahrungen aus dieser Zeit mitnimmt in den Wahlkampf, wenn er glaubwürdig für die Belange des "kleinen Mannes" und der "kleinen Frau" in Würselen, Schwäbisch-Hall, Dessau, Fürstenfeldbruck und anderswo in Deutschland einsteht und eintritt, ohne in den ganz links und ganz rechts im politischen Spektrum üblichen Populismus zu verfallen, dann kann er sein Ziel, die Bundestagswahl 2017 zu gewinnen, erreichen.
Wir, die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten an der Basis, werden Martin Schulz mit voller Kraft und voller Motivation unterstützen. Denn wir wünschen uns eine von ihm geführte Regierung, die endlich wieder eine Politik betreibt, deren Kernpunkte Gerechtigkeit, Chancengleichheit, Teilhabe und Solidarität lauten. Und nicht, wie von Frau Merkel gefordert, eine "marktkonforme Demokratie".
Dass Schulz' enormer Erfolg auch auf Bayern ausstrahlt und sich grundlegende Veränderungen auch in der BayernSPD abzeichnen, kann schon jetzt als sehr positive "Nebenwirkung" seiner Kandidatur verbucht werden.
Großer Dank und Respekt gebührt zweifellos Sigmar Gabriel, der in einer sehr schwierigen Situation eine noch viel schwierigere Entscheidung getroffen hat, indem er auf eine Kanzlerkandidatur und auf den Parteivorsitz zu Gunsten von Martin Schulz verzichtet. Dies zeugt von einem hohen Maß an Verantwortung gegenüber der Sozialdemokratie und hoher persönlicher Integrität Gabriels.