Raus aus dem Konsensbrei! Zurück zu den Wurzeln, SPD!

Jean-Marie Leone

Kommentar von Jean-Marie Leone, Fraktionssprecher der SPD im Puchheimer Stadtrat, zur Lage der Sozialdemokratie nach den Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt und Baden-Württemberg

So ziemlich alles an diesem denkwürdigen Wahlsonntag war absehbar. Das starke Abschneiden der AfD. Die erdrutschartigen Verluste der etablierten Parteien und insbesondere unserer SPD. Und, mit am schlimmsten, die Politiker-Runden nach der Wahl, die man auf nüchternen Magen kaum ertragen kann.

Als hätten es die Granden der Altparteien, zu denen inzwischen ja auch die Grünen gehören, nicht kapiert, als hätten sie den Schuss des Wählers nicht gehört, wiederholen, ja wiederkäuen sie größtenteils die schon seit Jahrzehnten abgedroschenen Phrasen der jeweiligen Wahlgewinner oder –verlierer. Der Rest ist viel Rat-, Ideen- und Mutlosigkeit.

Dabei gibt es durchaus wichtige Erkenntnisse aus diesem Wahlsonntag zu ziehen. Und es gibt auch echte Lichtblicke. Wie Malu Dreyer, die eben nicht den Fehler ihrer Konkurrentin und Möchtegern-Kanzlernachfolgerin Klöckner machte und ein doppeltes Spiel betrieben hat. Dreyer blieb bei ihrer Linie, wohl wissend, dass sie sich damit z.B. in der Flüchtlingsfrage Feinde machen würde. Aber eben auch (neue) Freunde, die es zu schätzen wissen, wenn ein Mensch auch in ungemütlichen, stürmischen Zeiten authentisch bleibt und verlässlich zu seiner humanistischen Überzeugung steht.

Damit unterscheidet sich Malu Dreyer auch positiv von Sigmar Gabriel, dem erst im Angesicht der ebenso bitteren wie sicheren Wahlniederlagen in Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt eingefallen ist, dass es neben seinem höchst umstrittenen Steckenpferd namens TTIP auch noch soziale Brennpunktthemen in Deutschland gibt, um die sich die SPD früher mal sehr viel intensiver gekümmert hat als jetzt. Mit seiner – leider von den Rechtspopulisten schon lange vorher postulierten – Forderung, man dürfe über die Flüchtlingsfrage nicht die sozialen Bedürfnisse der einheimischen Bevölkerung vergessen und müsse deshalb flugs ein Paket mit Wohltaten schnüren, hat er jedenfalls ein fulminantes Eigentor geschossen. Weil es schlicht und einfach ein unglaubwürdiges und durchsichtiges Manöver war, das am Ende – im besten Falle - wirkungslos verpufft ist.

Man kann trefflich darüber streiten, ob unser Land ohne die von SPD-Kanzler Gerhard Schröder durchgesetzten Hartz-Reformen so gut dastehen würde wie heute. Ich würde sagen, nein. Vermutlich sogar bei weitem nicht. Aber die SPD hat es in den Jahren nach 2005, in denen sie bis auf vier Jahre immer in der Regierung war, versäumt, die ungewollten und ungeplanten Fehlentwicklungen der Hartz-Gesetze zu korrigieren. Dies hat viele Menschen, vor allem auch im Osten des Landes, hart getroffen. Und das tragen ihr diese Menschen unerbittlich nach. Und womit? Mit Recht!

Es hat sich als Irrglaube herausgestellt, dass die SPD die Union aus der bürgerlichen Mitte dauerhaft herausdrängen kann. Das Gegenteil ist eingetreten. Die Union ist nach links gerutscht, zermalmt dort langsam, aber sicher die SPD zwischen sich, den Grünen und den Linken, während rechts von der Kanzlerin-Partei das Tor für die AfD und Schlimmeres sperrangelweit offensteht. Flankiert von einem hyperaktiven Bayerischen Ministerpräsidenten, der inzwischen zu allem fähig scheint, aber de facto zu wenig bis nichts fähig ist.

Die Merkel‘sche Union hat inzwischen praktisch kampflos viele Positionen übernommen, die die Sozialdemokratie in ihrem Wunsch (oder auch Wahn), unbedingt die politische Mitte besetzen zu wollen (oder zu müssen), preisgegeben hat. Die SPD selbst konnte zwar durchaus einige ihrer verbliebenen Positionen durchsetzen, dies wurde vom Wähler aber so gut wie nicht honoriert. Warum ist das so? Eine wichtige Frage, die bislang leider unbeantwortet geblieben ist.

Wie dem auch sei: Es ist schwierig, aber nicht unmöglich, die Union wieder an ihren alten politischen Platz zurückzuschieben und sich den eigenen Raum im politischen Koordinatensystem Deutschlands Stück für Stück zurückzuerobern.

Was also tun?

1. Sich ernsthaft politisch mit der AfD auseinandersetzen und sich der politischen Diskussion stellen. Wer die Wahlprogramme der AfD liest, kann dort unglaublich viele Punkte finden, die den meisten der AfD-Wählerinnen und –Wähler so vermutlich gar nicht bewusst waren, als sie ihr Kreuz bei der Alternative für Deutschland gemacht haben. Die AfD sitzt nun in etlichen Parlamenten und muss dort erst einmal zeigen, was sie unter parlamentarischer Arbeit versteht. Sie kann dort nicht nur stereotyp das eine Thema „Flüchtlinge“ besetzen, sondern sie muss sich zu allen Themen positionieren. Was werden z.B. die AfD-Wähler, die im Niedriglohnsektor arbeiten, dazu sagen, wenn sich die AfD gemäß ihrem Wahlprogramm dafür einsetzt, dass der Mindestlohn gekippt wird? Was werden die AfD-Wähler sagen, wenn die AfD sich gegen den Atomausstieg positioniert, fünf Jahre nach Fukushima und wenige Tage nach Bekanntwerden des schweren Störfalls im französischen Atomkraftwerk Fessenheim im Jahre 2014?

2. Die SPD ist eine linke Volkspartei. Und sie muss als solche wieder erkennbar werden. Das Fischen in der trüben Mitte muss ein Ende haben. Die Menschen müssen wissen, warum sie SPD wählen. Oder eben nicht wählen. Ein Vize-Kanzler, der - anders als die Kanzlerin - einzuknicken droht beim Thema Flüchtlinge und dem das Durchdrücken von TTIP gegen alle Widerstände und Zweifel wichtiger zu sein scheint als die sozialen Sorgen und Nöte vieler Millionen Bürgerinnen und Bürger, ist leider kein Aushängeschild mehr für die SPD, sondern eine Belastung. Das war nicht immer so, aber in der Krise gibt Gabriel leider keine gute Figur ab. Er kann Malu Dreyer sehr dankbar sein, die ihm für den Moment noch ein bisschen Luft verschafft hat mit ihrem lange Zeit nicht für möglich gehaltenen Sieg in Rheinland-Pfalz. Eine SPD links von der Mitte wird Gabriel jedenfalls nicht überzeugend vertreten können. Gegen Merkel zieht er in jedem Fall auch den Kürzeren. Sieht so eine Zukunftsperspektive aus?

3. Keine Tabus mehr. Die Zeit der Tabus muss ein Ende haben. Wenn die SPD als (Noch-) Volkspartei eine von ihr geführte Mitte-Links-Regierung anstrebt (in den letzten Jahren musste man sich manchmal fragen, ob sie das eigentlich noch tut), muss sie das alte Tabu einer Koalition unter Beteiligung der Linken endlich über Bord werfen. Auch ein Ausscheiden aus der Großen Koalition in Berlin darf nicht mehr undenkbar sein, nachdem Horst Seehofer mit seinen haarsträubenden Aktionen die Geschäftsgrundlage der GroKo mehr als einmal in Frage gestellt hat. Die SPD hat in den vergangenen Jahren bewiesen, dass ihr das Verantwortungsbewusstsein für unser Land wichtiger ist als das eigene Wohlergehen. Aber weitere Jahre in der GroKo gefährden die deutsche Sozialdemokratie in ihrer Existenz. Und so weit darf es nicht kommen. Klar würde man ein relativ bequemes Dasein in der GroKo gegen ein ungewisses außerhalb dieser Zweckgemeinschaft tauschen. Aber genau darin – und meiner Meinung nach nur darin – liegen für die SPD auch die Zukunftschancen.

Eine SPD mit Führungsanspruch muss mit klugen, glaubwürdigen und auch unbequemen Köpfen an der Spitze zeigen, dass sie es ernst meint mit einer Regierung links von der Union und weit links von AfD & Co. Sie muss zeigen, dass sie mehr ist als ein beliebig und austauschbar gewordener Juniorpartner unter einer lange Zeit übermächtig wirkenden „Matriarchin“. Die SPD muss wieder klar erkennbar sein, sie muss auch polarisieren. Wie schon gesagt, die Menschen müssen wissen (und sich nicht fragen), warum sie SPD wählen oder eben nicht wählen sollen.

Die besten, oder sagen wir die erfolgreichsten Zeiten hatte die SPD, als sie von Menschen geführt wurde, die klare Positionen bezogen haben, die nicht beim leisesten Windhauch umgefallen sind, die keine Diskussion scheuten (auch und insbesondere nicht in der eigenen Partei). Menschen, an denen sich die Geister im wahrsten Sinne des Wortes schieden: Brandt, Schmidt, Schröder. Warum sollte etwas, das damals möglich war, heute nicht mehr möglich sein?

Dafür braucht es „nur“ Mut. Und noch mehr klare Kante. Die SPD muss sich selbst und damit ihren Platz in unserer Demokratie wiederfinden. Fangen wir am besten schon heute damit an. Denn wenn nicht jetzt, wann dann?