Retten wir das Grau!

Jean-Marie Leone (SPD Puchheim)
SPD Puchheim

Kommentar von Jean-Marie Leone zu Corona

Retten wir das Grau!

„Wutbürger! Verschwörungstheoretiker! Aluhutträger!“, schallt es von der einen Seite. „Duckmäuser! Lemminge! Schlafschafe!“ von der anderen. Scheinbar unversöhnlich stehen sich Menschen gegenüber, insbesondere in den Sozialen Medien, auf der Straße. Teilweise ziehen sich tiefe Risse durch Freundschaften und Familien.

Die einen bezeichnen sich selbst als „Querdenker“, weil sie glauben, im Gegensatz zur breiten Masse der „Schlafschafe“ erkannt zu haben, dass das Virus, das unseren Alltag und unsere Gesellschaft, das die gesamte Menschheit seit einigen Monaten fest im Griff hat, nur ein Vorwand ist, für was auch immer. Denn wenn man diese Menschen fragt, was genau denn das Motiv aller möglichen Regierungen dieser Erde ist, unter dem Vorwand eines eigentlich harmlosen Virus‘ den gesellschaftlichen Frieden und den wirtschaftlichen Erfolg in ihren Ländern nachhaltig zu gefährden, dann bekommt man so gut wie nie eine konkrete Antwort. Entweder heißt es dann, man wolle das im Gegensatz zu den zuvor öffentlich formulierten Mutmaßungen lieber „unter vier Augen“ diskutieren. Oder man wird beispielsweise auf Facebook dann – ganz „querdenkerisch“ – einfach „entfreundet“ oder gleich ganz blockiert.

Für die anderen gehören kritische Geister, die Sinn und Umfang der staatlich angeordneten Maßnahmen hinterfragen und sich wegen der mittel- und langfristigen Auswirkungen der corona-bedingten Einschränkungen ernsthaft sorgen, ziemlich schnell zur Fraktion der Verschwörungstheoretiker.

Was sich schon in der Flüchtlingskrise deutlich gezeigt hat, setzt sich in Corona-Zeiten quasi nahtlos fort: Eine zunehmende Polarisierung der Gesellschaft und eine teilweise extreme Radikalisierung der Meinungen, gepaart mit einem enormen Verlust an gegenseitigem Respekt und Empathie.

Dank so zweifelhafter Vorbilder wie Trump mit seinen „alternativen Fakten“ werden Meinungen, Vermutungen, Theorien und unbewiesene Behauptungen zu allein und allgemein gültigen Wahrheiten deklariert, die keinerlei Raum für abweichende Ansichten lassen. Wissenschaftliche Erkenntnisse werden ignoriert, negiert oder ins Lächerliche gezogen. Es gibt, bildlich gesprochen, nur noch Schwarz oder Weiß.

Dementsprechend setzen sich viele Menschen, die ihren Standpunkt auf diese Weise radikalisiert haben, nicht mehr mit abweichenden Argumenten auseinander. Sie blenden, nein, sie sperren andere Meinungen einfach aus und schaffen sich so ihre persönliche, schier undurchdringliche Filterblase. Damit wird jede echte Diskussion praktisch unmöglich, viele schmoren nur noch im eigenen Meinungssaft ohne Chance auf ein ernsthaftes Contra.

Das ist ziemlich bitter, denn was wir alle in dieser schwierigen Zeit dringend bräuchten, sind ein respektvoller Umgang und eine offene Diskussion, die ihren Namen auch verdient. Auch, wenn das von Bundeskanzlerin Angela Merkel geäußerte Schlagwort „Diskussionsorgien“ im damaligen Kontext aus ihrer Sicht verständlich war, so gießt es dennoch zusätzlich Wasser auf die Mühlen derer, die hinter jedem Handeln der Politik eine böse Absicht zu erkennen glauben und dies, wie beispielsweise ein Herr Hildmann, mit brachialer und teilweise justiziabler verbaler Gewalt in die Köpfe der Menschen zu hämmern versuchen – leider teilweise mit Erfolg.

An sich ist es ja positiv, wenn Menschen in einer Demokratie für ihre Freiheitsrechte auf die Straße gehen. Bedenklich ist nur, wenn dies unter Missachtung der derzeit eben geltenden Regularien und noch dazu Seit' an Seit' mit ausgewiesenen Rechtsradikalen, Verschwörungstheoretikern und anderen Demokratiefeinden geschieht. Hier wäre eine deutliche(re) Abgrenzung dringend notwendig. Dies würde unnötige Schubladisierungen und Stigmatisierungen vermeiden helfen und vielleicht auch dazu beitragen, dass wir endlich wieder anfangen, offen und ehrlich miteinander zu diskutieren.

Es gibt im Moment nämlich mehr als genug Themen, die kluge Gedanken als Ergebnis einer offenen Debatte erfordern würden. Zum Beispiel die Frage,

  • wie wir den gesellschaftlichen Folgen wie Vereinsamung und Verarmung, z.B. durch Kurzarbeit oder gar Jobverlust, begegnen.
  • wie das gesellschaftliche und kulturelle Leben insgesamt belebt werden kann, ohne dabei signifikante Steigerungen der Infektionszahlen zu riskieren.
  • wie wir den Spagat zwischen Schutz und Sicherheit auf der einen und wirtschaftlicher Erholung auf der anderen Seite schaffen.
  • wie wir Krippe, Kindergarten und vor allem Schule so gestalten können, dass für die Kinder ein größtmögliches Maß an „Normalität“ (im positiven Sinne) wiederhergestellt werden kann.
  • wie wir ältere Menschen und solche, die aufgrund ihres Gesundheitszustands ebenfalls zu den gefährdeten Personen gehören, wirksam schützen können und dabei die Einschränkungen für die gesamte Gesellschaft trotzdem möglichst gering halten.
  • wie es grundsätzlich bestellt ist um die Verhältnismäßigkeit und Effektivität bestimmter Schutzmaßnahmen.
  • wer garantiert und überwacht, dass wirklich alle corona-bedingten Einschränkungen nach Überwindung der Krise wieder aufgehoben werden.
  • wie dann eine Rückkehr in die "Normalität" gelingen kann.
  • welche Lehren wir aus dem ganzen ziehen werden und welche Vorkehrungen wir treffen können, damit wir künftig für solche Situationen besser gerüstet sind
  • welche positiven "Nebenwirkungen" die Krise auch hatte und wie wir diese dauerhaft und zum Wohle der Menschen sichern können (z.B. Modernisierung der Technik in vielen Betrieben und damit einhergehend eine größere Flexibilität für die Beschäftigten).

Solange kein massentauglicher, ausreichend getesteter, wirksamer Impfstoff gefunden ist, sind all diese und viele weitere Fragen nicht nur legitim, sondern vielmehr essentiell. Es ist nicht nur Aufgabe der Politik, sondern unser aller Aufgabe, diese Fragen zu stellen und darauf gemeinsam Antworten zu finden. Antworten, die die Würde und Unantastbarkeit des menschlichen Lebens und den gesellschaftlichen Frieden aber nicht in Frage stellen, sondern – ganz im Gegenteil - sichern und schützen.

Dafür brauchen wir keine Scharfmacher wie Hildmann & Co., die versuchen, Menschen für die Verbreitung ihres Hasses zu instrumentalisieren. Dafür brauchen wir auch keine Schubladisierungen, weil jemand ernsthaft und begründet einen anderen Standpunkt vertritt als man selbst. Wir brauchen keine vermeintlichen „absoluten Wahrheiten“, die unversöhnlich aufeinanderprallen.

Wir brauchen vielmehr die Offenheit für verschiedene Meinungen, die Bereitschaft, die Perspektive des anderen einzunehmen und die eigenen Ansichten immer wieder auf den Prüfstand zu stellen. Wir brauchen Verständnis für die Sorgen und Ängste des anderen. Wir brauchen einen positiven, konstruktiven Wettkampf um die besten Ideen. Wir brauchen gegenseitigen Respekt, Solidarität und Einfühlungsvermögen. Und wir brauchen unbedingt wieder viel mehr Raum zwischen Schwarz und Weiß. Also lasst uns gemeinsam das Grau retten! Dann können wir als Individuen, aber vor allem als Gesellschaft gestärkt aus dieser gewaltigen Prüfung hervorgehen.

25.08.2020 - Jean-Marie Leone, Vorsitzender der SPD-Fraktion im Rat der Stadt Puchheim