Sinn oder Nichtsinn - Das ist hier die Frage

Jean-Marie Leone / SPD Puchheim
SPD Puchheim / Horncolor Puchheim

Kommentar von Jean-Marie Leone
31. Oktober 2020

Sinn oder Nichtsinn, das ist hier die Frage

Als William Shakespeare seinen „Hamlet“ schuf, dachte er mit ziemlicher Sicherheit nicht an Covid-19. Dabei passt die bekannte Strophe aus dieser weltberühmten Tragödie zumindest auf den ersten Blick erstaunlich gut zur aktuellen, globalen Situation. Im 3. Aufzug, 1. Szene spricht Hamlet Folgendes:

„Sein oder Nichtsein; das ist hier die Frage:
Obs edler im Gemüt, die Pfeil‘ und Schleudern
des wütenden Geschicks erdulden oder,
sich waffnend gegen eine See von Plagen,
durch Widerstand sie enden? Sterben – Schlafen -“

(Übersetzung von August Wilhelm von Schlegel, Quelle: Wikipedia)

Hamlets Monolog malt ein Bild der inneren Zerrissenheit, die in ihm tobt. Übertragen auf das Hier und Jetzt spiegelt dies sehr gut die Zerwürfnisse wider, die in vielen Menschen angesichts der weltumspannenden Pandemie schwelen und die die Zivilgesellschaften in den meisten Ländern dieser Erde – neben allen anderen Herausforderungen – seit Monaten und noch auf unabsehbare Zeit auf eine sehr harte Probe stellen.

Freilich passt die Analogie nicht wirklich, ging es Shakespeare doch vor allem darum, in dem Monolog Hamlets Dilemma zwischen seinem Weltschmerz und seiner damit verbundenen Todessehnsucht einerseits und seiner Angst vor dem Tod andererseits darzustellen. Aber Hamlet sinnierte eben auch über den Menschen an sich. Warum ist er? Warum nimmt er so viel Leid auf sich? Und so lautet die abgewandelte Frage, die viele Menschen heute umtreibt: Muss man die Pandemie und die mit ihr einhergehenden Einschränkungen weiterhin brav („edel im Gemüt“) erdulden oder muss man sich wehren „gegen eine See von Plagen, durch Widerstand sie enden“? (natürlich mit einem Widerstand anderer Ausprägung als der, den Hamlet im Sinne hatte!)

Viele Menschen sind wütend, verunsichert, enttäuscht, demoralisiert und fühlen sich hilflos angesichts der harten Einschnitte, die in Anbetracht der zweiten Corona-Welle „von oben“ rund um den Globus angeordnet wurden oder noch drohen angeordnet zu werden.

Natürlich gibt es die ideologischen Scharfmacher jeglicher Prägung, die in der Krise immer auftauchen und versuchen, ihre extreme Gesinnung in solchen Phasen auf fruchtbaren Boden fallen zu lassen – und damit leider gar nicht so wenig Erfolg haben.

Wesentlich bedenklicher - im Sinne von bedenkenswert - ist aber, dass auch vernünftige, rational denkende Menschen sich zunehmend fragen, ob die staatlichen Maßnahmen wirklich noch sinnvoll sind. Und ob sie eigentlich noch vollumfänglich durch Gesetze abgedeckt und demokratisch legitimiert sind.

Insofern habe ich Shakespeare schon ziemlich „zweckentfremdet“ mit meiner Variation der alles entscheidenden Frage: Sinn oder Nichtsinn, das ist hier die Frage. Alle Literatur- und Shakespeare-Fans mögen es mir bitte verzeihen!

Als die erste Corona-Welle um die Welt ging, hatten die allermeisten Menschen großes Verständnis für die Einschränkungen des öffentlichen Lebens und ihrer persönlichen Freiheit. Die deutsche Politik hat sich seinerzeit aus meiner persönlichen Sicht als vernünftig und verantwortungsbewusst erwiesen. Auch wurde versucht, die wirtschaftlichen Folgen für die vielen Betroffenen aus allen Bereichen unserer Gesellschaft abzumildern. Rückblickend betrachtet, bin ich der Überzeugung, dass Deutschland diese erste Welle – insbesondere auch im Vergleich zu den meisten anderen Ländern auf dieser Welt – gut bis sehr gut gemeistert hat.

Zwar war auch im Sommer dieses Jahres Corona das alles überlagernde Thema, aber eine stabile Mehrheit der Menschen hielt die – dann freilich auch etwas gelockerten – Corona-Maßnahmen für angebracht und befolgte sie auch weitgehend.

Schon in dieser Zeit spalteten sich aber Menschen ab, stellten alles in Frage und glaubten bzw. verbreiteten selbst wildeste Theorien über eine angebliche Weltverschwörung, Tyrannei und ähnlich Hanebüchenes. Das Feld spannt sich von den sogenannten „Querdenkern“, die in letzter Zeit zunehmend militant auftreten, bis hin zu rechts- und linksextremen Gruppierungen, die unseren demokratischen Rechtsstaat sowieso schon immer abgelehnt haben und nun ihre Chance wittern. Die Grenzen zwischen „echten“ Corona-Leugnern und extremistischen Gruppierungen, so es solche Grenzen überhaupt gab, verschwimmen immer mehr. Eine Abgrenzung findet kaum noch statt. Diesen Menschen, die auf Recht und Gesetz spucken, muss man mit aller Härte entgegentreten.

Leider werden aber auch Menschen, die mit solchen Gruppierungen überhaupt nichts am Hut haben, inzwischen ganz schnell in diese Ecke gestellt, weil sie berechtigte Fragen stellen zu Sinn und Unsinn der Corona-Politik der Regierung. Ich bin der Meinung, dass die Politik – übrigens nicht nur in Deutschland – die „ruhigere“ Phase im Sommer nicht ausreichend dazu genutzt hat, sich auf die absehbare zweite Welle adäquat vorzubereiten.

Deutlich wird dies z.B. im Bereich der Kindertagesstätten und Schulen. Kann und darf es hier wirklich sein, dass auf die besonderen Umstände, die hinter und vor allem vor den Eltern und insbesondere vor den Kindern liegen, hinsichtlich der Notengebung so wenig Rücksicht genommen wird?

Ich hätte mir weiterhin gewünscht, dass man die Sommerferien dazu nutzt, die Schulträger und die Schulen selbst in die Lage zu versetzen, Räumlichkeiten nach Möglichkeit so umzugestalten, dass auch bei einer zweiten Welle regulärer Schulunterricht möglich ist. Wenn, so wie zuletzt beispielsweise im Landkreis Fürstenfeldbruck, die Menschen von einem Tag auf den anderen vor die Situation gestellt werden, dass KiTas und Schulen nur noch stark eingeschränkt öffnen und auch eine Notbetreuung nur für die wenigsten sichergestellt ist, dann verunsichert und verprellt man auch viele Eltern, die sich bislang brav an die Corona-Vorgaben und –Empfehlungen gehalten haben. Dabei tragen Kindertagesstätten und Schulen, die oft sehr aufwendige Hygienekonzepte entwickelt und umgesetzt haben und dies auch streng kontrollieren, nach allem, was wir bislang wissen, nur in einem sehr geringen Umfang zur Verbreitung des Virus bei.

Gleiches gilt für die Gastronomie und Hotellerie. Die Branche hat sich wie kaum eine andere bemüht, den Sicherheitsanforderungen für ihre Gäste Rechnung zu tragen. Sie haben ebenfalls aufwendige Konzepte entwickelt, haben weit überwiegend die strengen Vorgaben beachtet und viel Geld bei teilweise stark einbrechenden Umsätzen investiert. Es ist unverständlich, warum diese Branche abermals nahezu komplett lahmgelegt wird durch den nun verordneten „Lockdown light“. Denn auch Restaurants und Hotels haben sich bislang eben gerade nicht als Treiber der Pandemie herausgestellt.

Vielmehr besteht nun die Gefahr, dass sich durch den Wegfall jeglicher Ausgehmöglichkeiten das gesellschaftliche Geschehen nahezu ausschließlich in den privaten Bereich verlagert, der sehr wohl als Katalysator für die Ausbreitung von Covid-19 identifiziert wurde. Ein sehr großer Anteil der Ansteckungen geht auf das Konto privater Feierlichkeiten und Partys. Ist es da wirklich sinnvoll, durch die Schließung von Restaurants die Menschen noch mehr in den privaten Bereich „zurückzudrängen“?

Apropos „drängen“: Wer dieser Tage mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fährt, der weiß auch ohne wissenschaftliche Expertise, wo ein weiterer Treiber der Corona-Pandemie liegt. Anstatt den Abstandsgeboten in der Pandemie Rechnung zu tragen, hat man teilweise Takte ausgedünnt und Züge verkürzt. Also genau das Gegenteil von dem, was eigentlich geboten gewesen wäre. In Stoßzeiten ist es ein Ding der Unmöglichkeit, Abstandsgebote einzuhalten.

Es gibt viele weitere Bereiche, in denen bis jetzt keine adäquaten Kompensationsmaßnahmen gefunden wurden, sei es im Amateur- und Breitensport (im Gegensatz zum steuerhinterziehenden DFB, der seine Geldmaschine auf Teufel komm raus weiterlaufen lässt) oder aber insbesondere im Bereich Kunst und Kultur. Viele KünstlerInnen und Kulturschaffende wurden schon durch den ersten Lockdown und das Verbot von Veranstaltungen jeglicher Art an den Rand der Existenz gedrängt. Der zweite Lockdown, egal ob „light“ oder nicht, bedeutet für viele KünstlerInnen ziemlich sicher das Aus. Und mit ihnen auch für Konzertveranstalter, Hallenbetreiber und natürlich auch für die Kinos, einem Stück Kulturgut, das dem Tode schon jetzt sehr nahe ist.

Bevor an dieser Stelle ein falscher Eindruck entsteht: Ich bin immer noch der Meinung, dass unser Staat, insbesondere im internationalen Vergleich, bislang relativ viel richtig gemacht hat. Aber das Vorgehen in jüngster Zeit überzeugt mich nicht mehr vollumfänglich. Auch die Beteiligung des Bundestags, die bislang ja eher nur informeller Natur war, muss schnell geregelt werden. Es ist ein Unding, dass nur die Kanzlerin und die 16 MinisterpräsidentInnen untereinander die Maßnahmen „auskarteln“ und das Parlament größtenteils außen vor bleibt. Insofern sind die Bestrebungen der SPD und anderer Parteien, den Bundestag in die Entscheidungsfindungen aktiv einzubinden, sehr zu begrüßen.

Wichtig ist auch, dass der Staat die Landkreise und Kommunen so weit stärkt, dass sie die dringendsten und drängendsten Bedarfe vor Ort regeln können. Die Kreise und Kommunen sind in diesen bewegten Zeiten für viele Menschen die erste Anlaufstelle und werden auch als allererste angegriffen, weil sie von oben angeordnete, unpopuläre Maßnahmen umsetzen müssen. Die Tatsache, dass es nicht wirklich allgemeingültigen Regeln gibt, sondern jedes Bundesland diese nach seinem eigenen „Gusto“ auslegt und modifiziert, vergrößert die Gräben noch zusätzlich.

Am allerallerwichtigsten ist aber, dass sich jede und jeder einzelne seiner persönlichen Verantwortung für sich und andere bewusst wird. Wenn sich private Zusammenkünfte und Feiern als eine der Haupttreiber für die Pandemie herauskristallisieren, dann muss sich jeder, der in dieser Zeit jegliche Vor- und Rücksicht beiseiteschiebt, weil er/sie sich in seinem Lebensstil – ohne Rücksicht auf Verluste – nicht einschränken möchte, fragen lassen, ob er/sie eigentlich noch ganz bei Trost ist. Gleiches gilt für „querdenkende“ (zumeist leider mehr quer als denkend) DemonstrantInnen, die mit ihrem rücksichtslosen Verhalten der Ausbreitung des Virus noch Vorschub leisten und so das, gegen das sie eigentlich angeblich demonstrieren, noch verstärken. Bisweilen könnte man meinen, das sei von diesen Leuten auch so beabsichtigt.

Je mehr wir aufeinander Rücksicht nehmen, je mehr wir uns unserer persönlichen Verantwortung in dieser weltweiten Krise bewusst werden und je mehr wir Egoismen für eine Zeit lang beiseiteschieben, desto eher wird sich unser Leben wieder normalisieren können. Wir alle müssen selbstverständlich wachsam sein – auch in Deutschland -, damit hart erkämpfte Grund- und Freiheitsrechte nicht dauerhaft verwässert und ausgehöhlt werden. Aber wir sollten dem Staat auch nicht permanent Gründe dafür liefern, überhaupt in die Versuchung zu kommen, dies zu tun. Dass manch einer sogar die Unverletzlichkeit der Wohnung in Frage stellt und Menschen dazu angestachelt werden sollen, andere zu kontrollieren und anzuzeigen, sind jedenfalls Alarmsignale, die ernst zu nehmen sind. Und die im Keim erstickt werden müssen.

Wir brauchen ein Miteinander und kein Gegeneinander. Nur gemeinsam können wir diese Krise überwinden. Oder zurück zu Hamlet: Sein oder Nichtsein, das ist keine Frage!

Jean-Marie Leone
SPD-Fraktionsvorsitzender
im Rat der Stadt Puchheim