Wenn die Empathie stirbt, stirbt die Demokratie!

Jean-Marie Leone, Fraktionssprecher der SPD im Rat der Stadt Puchheim

Puchheim, 23. Juni 2019

Kommentar von Jean-Marie Leone, Sprecher der SPD-Fraktion im Rat der Stadt Puchheim

Sucht man in Wikipedia nach dem Wort „Empathie“, spuckt die schlaue Maschine Folgendes aus:

Empathie bezeichnet die Fähigkeit und Bereitschaft, Empfindungen, Emotionen, Gedanken, Motive und Persönlichkeitsmerkmale einer anderen Person zu erkennen, zu verstehen und nachzuempfinden. Ein damit korrespondierender allgemeinsprachlicher Begriff ist Einfühlungsvermögen.

Zur Empathie wird gemeinhin auch die Fähigkeit zu angemessenen Reaktionen auf Gefühle anderer Menschen gezählt, zum Beispiel Mitleid, Trauer, Schmerz und Hilfsbereitschaft aus Mitgefühl. Die neuere Hirnforschung legt allerdings eine deutliche Unterscheidbarkeit des empathischen Vermögens vom Mitgefühl nahe.

Grundlage der Empathie ist die Selbstwahrnehmung – je offener eine Person für ihre eigenen Emotionen ist, desto besser kann sie auch die Gefühle anderer deuten.“

Wie man an den Reaktionen auf den Zitteranfall von Bundeskanzlerin Merkel sehen konnte, scheinen viele Menschen zu empathischen Reaktionen nicht mehr in der Lage zu sein. Art und Schärfe vieler Äußerungen, insbesondere in den sozialen Medien, waren schockierend. Von Mutmaßungen über eine angebliche Alkoholsucht über „Geschieht ihr recht!“ bis hin zu „Hoffentlich verreckt sie bald!“ war alles Denkbare (und Undenkbare) zu lesen. Menschen, die Empathie für die Kanzlerin zeigten und ihr – oftmals auch unter dem Hinweis, nicht mit ihrer Politik einverstanden zu sein – „trotzdem“ gute Besserung wünschten, wurden ebenfalls angegriffen.

Bereits in der griechischen Antike war man sich des Zusammenhangs zwischen Empathie und Demokratie sehr bewusst. Damals wurde diese Empathie oft in Form von Poetik und Theater gelebt. Auch in späteren historisch bedeutsamen Phasen spielte die Empathie eine große Rolle, so z.B. bei der Überwindung der Ständeklauseln im Frankreich des 17. und 18. Jahrhunderts.

Die dunkelsten Kapitel der Geschichte wurden in den Phasen geschrieben, in denen Staatsmächte die Empathie unterdrückten und zu vernichten suchten. Im Dritten Reich wurden freundliche Nachbarn plötzlich zu Aussätzigen, die irgendwann von den braunen Schergen aus ihren Wohnungen gezerrt und in Konzentrationslager verbracht wurden. Wer für diese Menschen offen Empathie zeigte, geriet selbst sehr schnell in den Fokus des Regimes.

Und wo stehen wir heute in Deutschland? Wie weit ist es bei uns noch her mit der Fähigkeit zur Empathie? Die Reaktionen auf Merkels Schwächeanfall waren das eine. Wenn man sich die Kommentare zum Mord an Walter Lübcke, dem Regierungspräsidenten im Regierungsbezirk Kassel ansieht, so hat der Hass, der augenscheinlich in vielen Menschen brodelt, eine neue Dimension erreicht. Lübcke wurde vermutlich seine in den sozialen Medien vielfach verbreitete Aussage zum Verhängnis, in der er denjenigen, die Mitmenschlichkeit – ein wichtiges Element der Empathie – ablehnten, nahelegte, Deutschland zu verlassen. Natürlich ist diese Aussage diskutabel und provokant. Aber wie kann es sein, dass ein Mensch im Deutschland des 21. Jahrhunderts dafür getötet wird? Wie kann es sein, dass viele Hasskommentare Lübcke gegenüber lange in den sozialen Medien abrufbar bleiben konnten oder gar nicht gelöscht wurden? Wie kann es sein, dass unfassbare Hasskommentare gegen im Mittelmeer ertrunkene Geflüchtete stehen bleiben? Oder dass wissentlich und willentlich Unwahrheiten verbreitet werden können? Welche Selbstwahrnehmung haben die Menschen, die Hass, Hohn und Lügen im Internet verbreiten?

Die sogenannten „sozialen Medien“ sollten ursprünglich eigentlich ein Ort der Begegnung, des Austauschs, der Diskussion sein. Ein Ort, der die vielen Nationen dieser Welt über alle Grenzen hinweg miteinander verbinden kann. Ein Ort, an dem sich Menschen begegnen können, die sich persönlich so nie begegnen würden. Ein Ort also, an dem Empathie durchaus eine wichtige Rolle einnimmt.

Wie sieht die Realität aus? Natürlich sind die „sozialen Medien“ ein Ort der Begegnung und des Austauschs von Erfahrungen und Meinungen. Aber sie werden zunehmend auch zu einem Ort des grenzenlosen Hasses, in dem der, der Mitgefühl für Angegriffene zeigt, selbst ganz schnell zum Opfer wird.

Oftmals werden diese Hassattacken gezielt gesteuert, auch unter Einsatz von Fake-Accounts und sogenannter Bots, also künstlicher Computernutzer. Sie schreien laut und sie schreien viel, sodass man manchmal den Eindruck bekommt, dass die Anständigen, die zur Empathie fähigen deutlich in der Unterzahl sind.

Das Gegenteil ist der Fall! Die große Mehrheit der Deutschen ist nicht hassdurchsetzt und unempathisch. Aber viele wollen sich dem Hass im Netz erst gar nicht aussetzen und halten sich deshalb aus den entsprechenden Kommentarspalten heraus. Dies ist zwar nachvollziehbar, aber gut ist es nicht. Denn so entsteht ein falscher, stark verzerrter Eindruck von den wahren Verhältnissen. Die, die am lautesten schreien, haben nicht immer Recht! Und das muss man ihnen auch klar und deutlich sagen.

Ein "Aufstand der Anständigen", wie ihn vor knapp 20 Jahren der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder gefordert hat, war nie wichtiger und dringender als jetzt. Wir dürfen uns nicht daran gewöhnen und wir dürfen es vor allem nicht zulassen, dass in Deutschland Menschen für Äußerungen ermordet werden. Wir dürfen das nicht abhaken und einfach zur Tagesordnung übergehen. Unser Staat, unsere Gesellschaft wird angegriffen, und es liegt an uns, Demokratie und Mitmenschlichkeit zu verteidigen. Die Empathie ist hierfür eine unerlässliche Essenz.

Da nicht zu erwarten ist, dass es die Betreiber der sozialen Netzwerke auf die Reihe bekommen, müssen es die Nutzer selbst tun. Man darf schreiben, dass man mit der Politik Merkels oder mit der Aussage Lübckes nicht einverstanden ist. Aber man darf und soll auch schreiben, dass man dem Menschen Merkel, Lübcke oder wer auch immer der Angegriffene ist, nichts Böses wünscht und dass man Anteil nimmt am Tod eines mutigen Politikers.

Mein Appell ist: Lasst uns für die Empathie kämpfen! Denn der Kampf für die Empathie, also für Mitmenschlichkeit, Mitgefühl und Einfühlungsvermögen, also für den Kitt unserer Gesellschaft, ist gleichzeitig ein Kampf für Demokratie und Frieden.

Wenn wir es zulassen, dass die Empathie von berufener Seite unterdrückt, bekämpft und zerstört wird, dann lassen wir es zu, dass irgendwann unsere Demokratie unterdrückt, bekämpft und zerstört wird.

Die Politik ihrerseits muss allerdings auch wieder empathischer werden. Wenn sich so viele Menschen von der Politik nicht mehr mitgenommen und vertreten fühlen, so ist das auch ein klares Zeichen mangelnder Empathie der Politik gegenüber den Menschen. Die Politik muss wieder lernen und vor allem dazu bereit sein, "Empfindungen, Emotionen, Gedanken, Motive und Persönlichkeitsmerkmale einer anderen Person zu erkennen, zu verstehen und nachzuempfinden". Das kann nicht nur durch die Kommunalpolitik vor Ort ge(währ)leistet werden, sondern muss ganz oben anfangen.

Wir alle tragen gemeinsam die Verantwortung. Nehmen wir sie wahr und zeigen wir den Demokratiefeinden, dass sie eine Minderheit sind und bleiben. Die Mitmenschlichkeit ist eine unglaubliche und unerschöpfliche Energiequelle. Nutzen wir sie!