Kommentar von Jean-Marie Leone, Fraktionssprecher der SPD im Puchheimer Stadtrat, zum „Brexit“
Nun ist er also da, der „Brexit“. Mit einem solchen Ergebnis des Referendums in Großbritannien über einen Ausstieg aus der EU hatten ernsthaft wohl die wenigsten gerechnet. Nicht einmal die schärfsten Brexit-Befürworter wie der Chef der rechtsgerichteten UKIP-Bewegung, Nigel Farage, der noch in der Nacht nach Schließung der Wahllokale öffentlich bekundete, dass die Befürworter für einen Verbleib Großbritanniens in der EU offenbar eine Mehrheit erzielt hätten.
Für viele, nicht nur auf der Insel, sondern auch auf dem Festland, war das Erwachen am Morgen nach dem Referendum dafür umso heftiger und bitterer. Denn allen jüngsten Umfragen und Prognosen zum Trotz hat sich eine Mehrheit von knapp 52 Prozent der Briten für das Ausscheiden des Vereinigten Königreichs aus der EU entschieden. Ersten Analysen zufolge waren es vor allem die Menschen ab 50 Jahren aufwärts, die ihre Stimme für den Brexit abgegeben haben. Bei den jungen Menschen lagen die Befürworter eines Verbleibs in der EU klar vorne.
Doch der Riss in der britischen Gesellschaft läuft in dieser Frage nicht nur an Altersgrenzen, sondern auch an geografischen Grenzen entlang. Während in England (mit Ausnahme von London) und Wales die Bürger mehrheitlich für den Ausstieg votierten, verhielt es sich in Schottland und Nordirland genau andersherum.
Erwartungsgemäß reagierten auch die Finanzmärkte sehr empfindlich auf diesen Paukenschlag, das englische Pfund verlor stark an Wert und auch die Börsen stürzten teilweise regelrecht ab.
Die seismischen Wellen, die die britische Bevölkerung mit ihrem Votum ausgesandt hat, machten dann auch vor den Mächtigen nicht halt. David Cameron, der britische Premierminister, kündigte für Oktober 2016 seinen Rücktritt an. Er sei nicht mehr der „Kapitän, der dem Schiff ein neues Ziel geben“ könne.
Soweit, so erwartbar. Dies umfasst auch die Reaktionen aus Deutschland und aus Brüssel. Geht es nach EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker, so müsse die Entflechtung Großbritanniens aus der EU nunmehr möglichst schnell vonstattengehen. Ähnlich äußerten sich auch andere führende Europa-Politiker.
Die EU und Juncker sind die eigentlichen Verlierer
Die EU und allen voran Juncker sind aber die eigentlichen Verlierer des „Brexit“ Man mag den Briten vorhalten können, dass ihre Entscheidung wohl eher eine emotionale als eine rationale war. Aber sie ist nunmal so gefallen. Und die EU und insbesondere die oberste Führungsebene um Juncker täten gut daran, den Fehler nicht oder zumindest nicht ausschließlich bei den Briten zu suchen. Denn zwei Gründe, die von den Brexit-Befürwortern sehr oft genannt wurden, sind: Die undemokratischen Strukturen der EU und ein massiver Vertrauensverlust in die Europäische Union in den letzten Jahren. Letzterer wurde durch die Finanzkrise und das Flüchtlings- und Migrationsthema noch stark befeuert.
Dass es Farage & Co. selbst im „Wahlkampf“ mit der Wahrheit nicht so genau genommen haben, ist schon kurz nach dem Referendum offensichtlich geworden. So schnell wie z.B. das Versprechen Farages, dass die Gelder, die derzeit aus Großbritannien an die EU fließen, künftig in das britische Gesundheitssystem einbezahlt werden, wurden wohl die wenigsten Parolen nach der Wahl wieder einkassiert.
Doch zurück zur EU: Juncker ließ keinen Zweifel daran, dass er von Cameron erwartet, seinen Rücktritt nicht erst im Oktober, sondern quasi sofort zu vollziehen. Dabei ist es eigentlich in erster Linie Juncker, der sofort zurücktreten müsste. Ihm und seiner Schar von Kommissarinnen und Kommissaren in Brüssel ist es nämlich ganz offensichtlich überhaupt nicht gelungen, das Vertrauen der Mehrheit der Briten in die EU und ihre Institutionen zurückzugewinnen. Ganz im Gegenteil, nun geht, was Juncker auch unumwunden einräumt, die Sorge um, dass andere Staaten dem Beispiel Großbritanniens folgen könnten. Denn die EU-Skepsis ist in vielen Ländern – auch in solchen, die von der EU in hohem Maße profitieren – stark ausgeprägt.
Dass Juncker nun mit dem Finger auf die Briten zeigt und versucht, die Türe so schnell wie möglich zuzumachen, ist wenig verwunderlich. Fast schon schadenfroh weist er auf die Diskussionen hin, die z.B. in Schottland und Nordirland im Hinblick auf eine Loslösung vom Vereinigten Königreich neu entfacht wurden. Die Menschen dort hatten sich mehrheitlich für einen Verbleib in der EU ausgesprochen, wurden aber durch den Süden der Insel quasi „überstimmt“. Dies nährt nun natürlich aufs Neue die Unabhängigkeitsbestrebungen, die vor rund zwei Jahren in Schottland schon einmal zu einem Referendum über die Unabhängigkeit von Großbritannien geführt hatten. Nun sehen viele Schotten nach dem Brexit die Karten als „neu gemischt“ an und fordern immer lauter eine neue Volksabstimmung. Deren Ausgang wäre unter den neuen Vorzeichen sicherlich mehr als ungewiss.
Wenn Juncker denkt, dass er mit dieser Taktik davon ablenken kann, dass die EU insgesamt und er als deren führender Kopf die eigentlichen Verlierer des Referendums in Großbritannien sind, dann irrt er gewaltig. Eigentlich schon längst, aber allerspätestens jetzt müssen Juncker & Co. den Weg frei machen für eine „EU 2.0“. Für eine EU, die sich durch transparente, verständliche und demokratisch zustande gekommene Entscheidungen auszeichnet. Für eine EU, in der es nicht um Gleichmacherei, sondern um Chancengleichheit geht. In der nicht nur die wirtschaftlichen Interessen, Subventionen und Transfers im Vordergrund stehen, sondern die Menschen und die Entwicklung gemeinsamer Werte. In der man versucht, den Bürgern die Sorgen und Ängste nicht durch an die Wand gemalte Teufel, sondern durch sachliche, nachvollziehbare Argumente und durch zielgerichtetes, nachhaltiges und glaubwürdiges Handeln zu nehmen.
Es ist Zeit für eine grundlegende Reform der EU
Es ist ein schwerer Fehler, wie ein beleidigter Pfau den Briten nunmehr unversöhnlich die Türe endgültig vor der Nase zuzuschlagen, ganz nach dem Motto „So, das habt ihr nun davon!“. Es ist vielmehr Zeit für grundlegende Reformen der Europäischen Union, um das Vertrauen der Menschen wieder zurückzugewinnen und so vielleicht auch den Briten in ein paar Jahren einen Weg zurück unter das gemeinsame Dach zu ermöglichen. Ohne das Vertrauen der Menschen ist die Europäische Union auf Dauer nicht mehr lebensfähig.
Die europäische Idee hat uns inzwischen mehr als sieben Jahrzehnte Frieden und in vielen Ländern der EU auch Wohlstand beschert. Diese grandiose Idee darf nicht daran scheitern, dass selbstherrliche und nicht demokratisch legitimierte Alpha-Tiere wie Juncker an ihren lukrativen Posten kleben. Die Parallelen zu Joseph Blatter in der Welt des Fußballs sind hier kaum zu übersehen. Aber selbst ein Blatter musste irgendwann abdanken, als der Druck zu groß wurde. Gleiches wünscht man sich nun für die EU-Kommission in Brüssel. Die gesamte Konstruktion gehört schonungslos auf den Prüfstand. Die Zielrichtung muss sein: Weniger Technokratie, mehr Demokratie. Die Rechte des EU-Parlaments müssen deshalb dringend weiter gestärkt werden, die Regionen Europas brauchen fundamentale Mitspracherechte und die Brüsseler Regelungswut muss deutlich eingedämmt werden.
Die jungen Menschen können ein stabiles Fundament für Europa sein
Die hohe Akzeptanz und Offenheit einer Mehrheit der jungen Menschen pro Europa, wie sie sich aktuell in Großbritannien abzeichnete, können ein stabiles Fundament einer „neuen“ Europäischen Union bilden. Es muss unter allen Umständen gelingen, dass Europa nicht in die nationalistische Kleinstaaterei des 19. Jahrhunderts zurückfällt. Dies wäre in ihrer "Kurzsichtigkeit" vielleicht für nationalistische Kräfte wie Front National, UKIP, Fidesz, Lega Nord und AfD wünschenswert, ebenfalls möglicherweise für Autokraten wie Putin und Erdogan. Aber für die Länder Europas wäre das in Zeiten der Globalisierung in der Tat eine Katastrophe.
Damit die „EU 2.0“ gelingen kann, muss sie allen jungen Menschen in den EU-Mitgliedsstaaten eine echte Lebensperspektive bieten können. Die Art und Weise, wie beispielsweise mit Griechenland – übrigens auch seitens der Deutschen Regierung – umgegangen wird, ist absehbar zum Scheitern verurteilt. Griechenland ist ein am Boden liegendes Land, das keine realistische Chance mehr hat, alleine wieder auf die Beine zu kommen. Büßen müssen das dort die „normalen Bürger“, vor allem aber die Älteren, die mit einer immer karger werdenden Rente auskommen müssen, und natürlich die jungen Menschen, die keinen Ausbildungsplatz oder keinen Job bekommen. Dies stärkt am Ende nur radikale Kräfte an beiden Rändern des politischen Spektrums und fördert so den weiteren Zerfall der Europäischen Familie.
In der EU-Konstruktion müssen sich elementare Dinge ändern
Wenn sich in der EU-Konstruktion nach dem gewaltigen Erdbeben, das der Austritt Großbritanniens verursacht hat, nicht schnell grundlegende Dinge ändern, laufen wir Gefahr, dass andere Staaten dem Beispiel folgen und der EU den Rücken kehren. Dies kann, wie sich jetzt am Beispiel des Vereinigten Königreichs deutlich zeigt, nicht nur die Europäische Union zersprengen, sondern auch einzelne Mitgliedsstaaten, die schon in der Vergangenheit mit nationalen Unabhängigkeitstendenzen zu kämpfen hatten (genannt seien hier z.B. Spanien und Italien).
Der erste, zwingend notwendige Schritt kann nur der schnelle Rückzug Jean-Claude Junckers sein. Er muss Personen Platz machen, die die Fehler nicht immer nur bei den anderen suchen und so tun, als hätten sie mit dem Wegfall einer der wichtigsten Stützen der Europäischen Union nichts zu tun.
Wir brauchen Menschen an der Spitze der EU, die bereit und mutig genug sind, das gemeinsame Haus völlig neu aufzubauen zu einem tragfähigen, demokratischen und transparenten Gebäude. Es muss gelingen, den Menschen zu vermitteln, dass die EU viel mehr ist als eine reine Wirtschafts-, Währungs-, Regelungs- oder Transferunion.
Gelingt dies nicht, ist die gesamte europäische Idee in Gefahr. Bestimmte Personen reiben sich darob schon die Hände und lachen sich ins geballte Fäustchen. Diese Freude dürfen wir ihnen nicht machen.