Alle, die 2005 und später geboren sind, kannten bis zum 8. Dezember dieses Jahres keine andere Bundeskanzlerin als Angela Merkel. Dabei können sich vermutlich die meisten Frühergeborenen noch sehr gut an den Abend erinnern, als nach der Bundestagswahl 2005 die "Elefanenrunde" im Fernsehen zusammentrat und Alt-Bundeskanzler Gerhard Schröder, offensichtlich unter Strom stehend ob seiner sich abzeichnenden Niederlage, aus der Rolle fiel mit seinem im Nachinein noch surrealer wirkenden Auftritt. Denn "die Kirche" wurde eben nicht, wie von Schröder gefordert, "im Dorf gelassen" und auch seine Prophezeiung, dass es unter Führung von Merkel keine Koalition mit der SPD geben würde, erfüllte sich nicht. Ganz im Gegenteil: In zwölf von insgesamt 16 Jahren der Kanzlerschaft Merkel regierte in Deutschland die ebenso ungeliebte wie (erstaunlich) stabile Große Koalition ("GroKo") aus Union und SPD.
Der Preis, den die SPD als "ständiger Junior-Partner" für die Übernahme von Regierungsverantwortung in der Ära Merkel zahlen musste, war sehr hoch. Der Vertrauensverlust, den viele - ob nun berechtigt oder unberechtigt - an Schröders Agenda 2010 und den Hartz-Gesetzen festgemacht haben, führte trotz einiger Erfolge der SPD in der Koalition (Beispiel Mindestlohn) zu einer gewaltigen, schier unaufhaltsamen Erosion der Wahlergebnisse der SPD und in der Folge auch zu einem Zerbröseln sozialdemokratischer Strukturen und Milieus im ganzen Land. Beinahe unzählige Parteivorsitzende, Kanzlerkandidaten und Hoffnungsträger anderer Art hat die SPD in dieser Zeit verschlissen und sich zu oft mit dem beschäftigt, was sie besonders gut kann: Sich selbst zu zerfleischen.
Doch es wäre viel zu einfach, Angela Merkel hierfür die Schuld zu geben. Merkel hat es schlicht wie kein/e andere/r Politiker:in vor ihr vorstanden, ihre politischen Gegner - vor allem auch die im eigenen Lager - so entspannt wie effektiv ins Leere laufen zu lassen und ihnen das Wasser abzugraben, bis nur noch Haut und Knochen übrig waren. Nicht nur die hungrigen Unions-Wölfe wie Koch, Merz (zumindest bis vor kurzem), Söder & Co. prallten an ihr ab wie Wassertropfen an einer Teflonpfanne. Auch die SPD wurde 16 Jahre lang nach und nach in ihrem Kern ausgehöhlt durch eine Politik der "asymmetrischen Demobilisierung", durch eine nie da gewesene Sozialdemokratisierung der Union und insbesondere der CDU.
Ich persönlich ziehe absolut meinen (nicht vorhandenen) Hut vor Angela Merkel, mit welcher stoischen Ruhe und Gelassenheit sie sämtlichen Unrat, der ihr entgegenschwamm, vorbeiziehen ließ. Kein Sturm, keine Flut, kein noch so wütender Angriff konnten diesem Fels in der Brandung je etwas anhaben. Selbst ihr legendäres Mantra "Wir schaffen das!" - aus humanitärer Sicht eine großartige Tat, leider schlecht kommuniziert, organisiert und umgesetzt -, für das sie bis heute unfassbar viel Hass und Häme ernten musste, hat sie nicht aus der Bahn geworfen.
Gerne hätte ich mir schon öfters einige Scheiben von Merkels Fähigkeit, sich auch durch größte Anfeindungen und Ungerechtigkeiten nicht provozieren zu lassen, abgeschnitten. Diese Gabe hängt sicherlich auch zusammen mit ihrer fast schon zum Markenzeichen gewordenen Uneitelkeit. Frisur? Raute? Hosenanzüge? Wem es nicht passt: Sein Problem! Mir hat das immer sehr imponiert.
Und ehrlich gesagt war es in vielen Krisensituationen, die wir in Deuschland und der Welt in den 16 Jahren überstehen mussten, ein beruhigendes Gefühl, dass diese standhafte, stets wissenschaftlich-rational denkende Frau das Steuer sicher und ruhig in der Hand behielt, wo allerorten die kopflosen apokalyptischen Hühner schon das Ende der Welt prophezeit haben. Kohls "kleines Mädel" ist schon jetzt als erste deutsche Bundeskanzlerin überhaupt und als großartige Staatsfrau in die Geschichte der Bundesrepublik eingegangen. Das i-Tüpfelchen war der Zapfenstreich, bei dem sie durch die Musikauswahl ihre durchaus vorhandene Fähigkeit zu Humor und Selbstironie unter Beweis stellte. Eigenschaften, die man gerne das ein oder andere Mal öfters bei ihr aufblitzen hätte sehen wollen. Aber so ist sie eben.
Merkels Stärke ist jedoch zugleich auch die Schwäche der Union und insbesondere der CDU. In ihrem Schatten, in dem sich, wie schon gesagt, die Wölfe ihre Zähne an ihr ausgebissen haben, wuchs nichts heran, was auch nur annähernd ihr Format hat. Dass gerade Friedrich Merz, der alte Blackrocker und selbsternannte Wirtschaftsexperte, nach dem Willen einer Mehrheit der Mitglieder wohl neuer CDU-Vorsitzender wird, sollte auch dem letzten Optimisten deutlich vor Augen führen, in welch desaströsem Zustand sich die Christdemokratische Partei befindet.
Ein weiterer Makel, der an Merkel haften bleiben wird: Unter ihrer Führung begann der Aufstieg der unsäglichen, sich immer weiter radikalisierenden AfD, weil sich vor allem auch viele Unionsanhänger von Merkels Politik links der Mitte nicht mehr ausreichend vertreten oder ernst genommen fühlten. Wichtige politische und gesellschaftliche Diskussionen kamen zum Erliegen oder wurden erst gar nicht geführt. Zumindest das dürfte sich mit einem CDU-Vorsitzenden Merz alsbald ändern. Spannend wird vor allem sein, wie sich gerade die CDU dann bezüglich der (angeblichen) Alternative ganz rechts außen positionieren wird.
Für die SPD ist das Ende der Ära Merkel und die frappierende Schwäche der Union - zu Laschet will ich hier nichts mehr schreiben, der musste schon genug einstecken und konnte einem manchmal schon fast ein bisserl leid tun - eine unverhoffte Chance, den Weg zu einer Volkspartei, die diesen Namen auch zu Recht trägt, wiederzufinden. Mit Olaf Scholz steht nun ein ebenso sachlicher, ruhiger Steuermann am Ruder, der aber im Gegensatz zu Merkel auch tatsächlich SPD-Mitglied ist. Dass es ihm gelungen ist, mit den früher schier unversöhnlich zerstrittenen Grünen und Liberalen in professionellen, konstruktiven Verhandlungen eine Koalition zu schmieden, spricht absolut für ihn und für das Verhandlungsgeschick aller beteiligen Sozialdemokrat:innen.
Es wird sicher nicht leicht, dieses Bündnis die kommenden vier Jahre anzuführen, da einige der beteiligten Charaktere durchaus einen ausgeprägten Hang zur Eigenprofilierung haben. Aber die Ernsthaftigkeit, mit der die Koalitionsvereinbarungen verhandelt und beschlossen wurden und die großen Vertrauensvorschüsse, die alle drei Parteien der Ampel von ihren Mitgliedern erhalten haben, sollten Ansporn genug sein, in den kommenden vier Jahren eine progressive Politik in Deutschland umzusetzen, der es gelingt, das Spannungsfeld zwischen sozialen, ökologischen und ökonomischen Belangen zum Wohle der Gesellschaft und nicht auf Kosten künftiger Generationen zu meistern.
Gerne können Sie mit uns über diesen Beitrag diskutieren. Schreiben Sie uns eine E-Mail oder debattieren Sie auf Facebook hart, aber fair :-)
In diesem Sinne Euch/Ihnen allen ein frohes Weihnachtsfest und einen guten Rutsch ins neue Jahr! Bleiben's g'sund!
Ihr
Jean-Marie Leone
SPD-Fraktionssprecher im Rat der Stadt Puchheim