Nein, es war wieder einmal kein gewöhnlicher Neujahrsempfang, zu dem die Puchheimer SPD am 27. Januar 2017 in die Aula der Schule Süd geladen hatte. Wo manch einer - auch aus den eigenen Reihen - im Hinblick auf die heuer anstehende Bundestagswahl womöglich eine prominente Politikerin oder einen eben solchen Politiker erwartet hätte, durften wir einen Menschen vorstellen, der in seinem Leben lange Zeit nicht auf der Sonnenseite stand und heute sehr offen auf seine Vita zurückblickt: Uwe Hinsche von BISS e.V., dem Verein, der es sich auf die Fahnen geschrieben hat, Bürgern in sozialen Schwierigkeiten zu helfen.
Obwohl, oder gerade weil Hinsche eben gerade kein "Prominenter" ist, fanden rund 100 Besucher das Thema - es lautete "BISS e.V. - ein großes BISSerl Hoffnung für Bürger in sozialen Schwierigkeiten" - so interessant, dass sie der Einladung der Puchheimer SPD gefolgt sind. Anwesend waren u.a. sowohl die SPD-Landtagsabgeordnete Kathrin Sonnenholzner als auch ihr Kollege und Alt-Bürgermeister von Puchheim, Dr. Herbert Kränzlein. Ebenfalls unsere Gäste waren neben vielen Bürgerinnen und Bürgern und Puchheimer Honoratioren und Stadträten anderer Fraktionen auch Bezirksrat Martin Eberl und der Dritte Bürgermeister der Stadt Puchheim, Thomas Salcher.
Die, die da waren, haben ihr Kommen nicht bereut, denn sie erlebten einen sehr kurzweiligen, beeindruckenden und zum Nachdenken anregenden Abend.
Zunächst begrüßte der Erste Bürgermeister der Stadt Puchheim, Norbert Seidl, die Gäste und den Protagonisten des Abends, Uwe Hinsche, dienstältester Mitarbeiter bei BISS e.V. in München.
Im Anschluss übergab Seidl das Wort an SPD-Kreis- und Stadträtin Petra Weber und an Jean-Marie Leone, dem Fraktionsvorsitzenden der SPD im Puchheimer Stadtrat. In einem lockeren "Interview" mit Hinsche beleuchteten sie zunächst den Werdegang des gebürtigen Dessauers.
>> Kindheit und Jugend von Uwe Hinsche <<
Das Leben von Uwe Hinsche, geboren am 23. April 1955, war von Anfang an - im wahrsten Sinne des Wortes - bewegt. Als er wenige Monate alt war, flüchtete seine Familie aus Sachsen-Anhalt in den Westen. Dort kam man zunächst in ein Auffanglager in Hamm (Westfalen), wo die Familie - bestehend aus der allein erziehenden Mutter und acht oder neun Geschwistern - auseinander gerissen wurde. Hinsche wurde komplett von seiner Familie getrennt und in einem Heim untergebracht.
Im Alter von vier Jahren führte sein Weg dann in die Schwäbische Alb, wo er seine Kindheit und einen Teil seiner Jugend verbrachte. Ab dem 13. Lebensjahr betrieb Hinsche Leistungssport in den Disziplinen Schwimmen, Kampfsport, Klettern und insbesondere im 5.000-Meter-Lauf.
Mit 15 Jahren begann Hinsche dann in Göppingen eine Lehre als Schreiner, die er erfolgreich abschloss. Nachdem sich Gedanken an ein Studium der Theologie zerschlugen, heuerte er kurze Zeit später für zwei Jahre bei der Bundeswehr an. Sein Ziel, Kampfschwimmer zu werden, erreichte er jedoch nicht, denn nach Ansicht der Bundeswehr war er dafür "zu leicht", wie er mit einem leicht bitteren Lächeln betonte.
>> Der Bruch in seinem Leben <<
Uwe Hinsche zog dann nach Stuttgart um und lernte dort seine spätere Ehefrau kennen. Auch Nachwuchs - ein Sohn - stellte sich bald ein. Vor die Wahl gestellt, seinen exzessiven Sportaktivitäten nachzugehen oder sich mehr um seine Familie zu kümmern, entschied sich Hinsche für die Familie. Dies war - vermutlich aufgrund der Radikalität seiner Entscheidung von "Vollgas auf Null" - ein entscheidender Bruch in seinem Leben.
Denn der Sportentzug veränderte ihn. Er begann, stark zu trinken und zu rauchen. Immer öfters ließ er der sich in ihm anstauenden Aggressivität freien Lauf gegen die Wohnungseinrichtung. Auch wenn sich seine Gewaltausbrüche nie gegen seine Familie richteten, zerbrach daran die Ehe mit seiner Frau. Hinsche erhielt ein Betretungsverbot für die gemeinsame Wohnung und war fortan plötzlich obdachlos.
Als er sich 1980 dazu entschloss, Stuttgart zu verlassen und - als Flucht in die Anonymität - in die nächstgelegene größere Stadt, also nach München, ging, war er nach eigenem Bekunden bereits Alkoholiker.
>> Tiefpunkt und Wendepunkt <<
Nach neun Jahren Leben auf der Straße in der bayerischen Landeshauptstadt war Uwe Hinsche dann an einem Punkt angekommen, an dem er so nicht mehr weiterleben wollte. Mit 100 Tabletten und einem Gasrevolver, mit dem er sich in den Mund schoss, wollte er 1989 seinem Leben ein Ende setzen.
Als er nach dem missglückten Suizidversuch wieder aufwachte, fand er sich im Bezirkskrankenhaus in Haar wieder. Nach zwei Wochen dort und einigem weiterem Hin und Her teilte man ihm einen Platz in einer therapeutischen Wohngemeinschaft in Nürnberg zu. Dort gelang ihm - nach eigener Aussage vor allem aus eigener Kraft und eigenem Antrieb heraus - die entscheidende Wende in seinem Leben.
Nach zwei Jahren kehrte Hinsche zurück nach München, wo sich der Neubeginn aber zunächst wiederum als sehr schwierig und zäh herausstellte. Die Sozialpädagogen seiner ersten Anlaufstelle in München, der Teestube in der Zenettistraße, halfen ihm nach Kräften, dennoch sollte es noch drei Jahre dauern, bis Hinsche in München endlich eine eigene Wohnung erhielt. Geholfen hat ihm dabei auch, dass die Presse in Gestalt der Süddeutschen Zeitung damals seinen Fall aufgegriffen und thematisiert hat.
>> Neue Hoffnung dank eigener Stärke - und dank BISS <<
Anfang der Neunziger-Jahre kam es dann auch zum ersten Kontakt mit dem Projekt BISS, auf das ihn Sozialpädagogen angesprochen hatten. Hinsche interessierte sich von Anfang an für das Vorhaben und gehört zu den Gründungsmitgliedern des Vereins BISS e.V. Bürger in sozialen Schwierigkeiten. Am 17. Oktober 1993 erschien dann die erste Ausgabe der BISS-Zeitung, die heute nicht mehr aus dem Stadtbild Münchens und des Umlands wegzudenken ist.
Nach dem Bezug seiner Wohnung im Münchner Stadtteil Haidhausen - gleich neben dem heutigen BISS-Büro - gelang Hinsche mit Hilfe von BISS auch die Entschuldung.
Heute ist Uwe Hinsche der dienstälteste Mitarbeiter von BISS. Er betreut die BISS-Verkäuferinnen und -Verkäufer und kümmert sich um die Öffentlichkeitsarbeit des Vereins. Er geht in Schulen, um das Projekt dort vorzustellen, führt Stadtführungen durch und kommt z.B. zur Puchheimer SPD zum Neujahrsempfang ;-)
All das erzählt Hinsche in der Aula der Schule Süd den Zuhörerinnen und Zuhörern sehr offen, immer gepaart mit einem sehr sympathischen Humor, der dennoch nicht den Sinn verdeckt für die Tiefen, die Hinsche in seinem Leben schon durchlaufen und meistern musste. Eine Leistung, die großen Respekt verdient, zumal Hinsche betont, dass er nicht den Fehler wie viele andere macht, die Schuld für die Schatten in seinem Leben bei anderen zu suchen. Er weiß, dass er viele Fehler gemacht hat, und er macht niemanden anderes als sich selbst dafür verantwortlich.
Diese Einstellung begründet auch die große Authentizität und Glaubwürdigkeit, mit der Uwe Hinsche aus seinem Leben erzählt hat. Seine Geschichte ist Mahnung und Vorbild zugleich. Es kann jede und jeden im Leben treffen. Eine falsche Entscheidung, ein Zusammentreffen mehrerer unglücklicher Umstände, mangelnde Einsicht zur falschen Zeit können jeden Menschen mit sich in die Tiefe reißen. Uwe Hinsche hat es - vor allem aus eigenem Antrieb, aber auch mit Hilfe sozialer Institutionen wie der Teestube oder BISS - geschafft, aus diesem tiefen Tal wieder herauszukommen und sein Leben wieder in geregelte Bahnen zu lenken.
>> Das Projekt BISS in allen Facetten <<
Uwe Hinsche stellte dann auch noch die Arbeit von BISS e.V. näher vor. Es lohnt sich, sich dieses vorbildliche Projekt, dessen Kernanliegen die Hilfe zur Selbsthilfe ist, näher anzusehen. Unter biss-magazin.de finden Sie alle wichtigen Informationen rund um BISS. Und vielleicht denken Sie, liebe Leserin, lieber Leser, beim nächsten Mal, wenn Sie in Puchheim oder anderswo eine freundliche BISS-Verkäuferin oder einen freundlichen BISS-Verkäufer sehen, daran, dass dahinter auch Menschen stecken, die ähnliche Lebenswege hinter sich haben wie Uwe Hinsche.
Der Verein, der übrigens nicht nennenswert öffentlich gefördert wird, finanziert sich und die zum Teil fest angestellten Verkäuferinnen und Verkäufer ausschließlich über Spenden und sogenannte Patenschaften sowie über den Zeitungsverkauf. Viele Menschen haben BISS eine Rückkehr aus Arbeits- und Obdachlosigkeit in ein "normales" Leben zu verdanken. Dieses Engagement kann man nicht hoch genug bewerten.
Die Bandbreite des Projekts ist wirklich beeindruckend. BISS kümmert sich nicht nur darum, dass die Verkäuferinnen und Verkäufer wieder ein regelmäßiges Einkommen haben, sie werden auch bei der Wohnungssuche und bei der oftmals notwendigen Entschuldung unterstützt. BISS kauft z.B. regelmäßig Anteile an der Münchner Wohnungsgenossenschaft WOGENO, um so Belegungsrechte für Wohnungen zu erwerben. Für Wohngemeinschaften wird inzwischen auch Wohnraum direkt angekauft. Ein fest angestellter Sozialpädagoge hilft bei der Einschätzung und Bewältigung persönlicher Probleme, ein Schuldnerberater kümmert sich darum, die finanziellen Dinge der in Not Geratenen zu lindern bzw. zu beheben. Im Moment beschäftigt BISS rund 100 Verkäuferinnen und Verkäufer, von denen ungefähr die Hälfte fest angestellt ist.
>> Schlusswort und Appell an die SPD von Benjamin Schemel <<
Den Abschluss des offiziellen Teils des Neujahrsempfangs bildete dann das Schlusswort des stellvertretenden Ortsvereinsvorsitzenden und Stadtrats Benjamin Schemel. Er gab der SPD drei Wünsche mit auf den Weg, die helfen sollen, dass die Sozialdemokratie in Deutschland wieder eine führende Rolle spielen kann: 1. Die SPD soll sich wieder auf ihre Kernkompetenzen besinnen und aus der Mitte wieder nach links rücken. 2. Die SPD soll mit Visionen, mit einem echten Zielbild für eine moderne Gesellschaft in den Wahlkampf ziehen. Und 3. Die SPD soll "tierisch nerven", sowohl im Kampf für Chancengerechtigkeit und Teilhabe, aber auch im Kampf gegen Rechtsextremismus. Die Rede werden wir in Kürze hier zum Download anbieten.
Im Anschluss fanden dann bei dem schon traditionellen Buffet noch viele anregende Gespräche statt.
Wir danken Uwe Hinsche sehr für seinen Besuch in Puchheim. Solche Schicksale öffnen hoffentlich ganz vielen Menschen die Augen dafür, dass im Leben nichts selbstverständlich ist.
Und wir danken allen Helferinnen und Helfern, die diesen Abend durch ihr freiwilliges, ehrenamtliches Engagement erst ermöglicht haben.