Rund 100 Gäste durfte die Puchheimer SPD zu ihrem diesjährigen Neujahrsempfang in der Aula der Schule Süd begrüßen.
Gast des Abends war Dr. Nora Hangel, Philosophin und Kulturwissenschaftlerin. Das Thema des Abends lautete "Pflege 4.0 - Wer bestimmt die Pflege der Zukunft?".
Zunächst begrüßte SPD-Ortsvorsitzende Marga Wiesner die zahlreichen Gäste, unter ihnen auch der Zweite Bürgermeister der Stadt Puchheim, Rainer Zöller, einige Stadträtinnen und Stadträte sowie SPD-Landratskandidat Dr. Christoph Maier.
Erster Bürgermeister Norbert Seidl betonte in seinem Grußwort den Handlungsauftrag der Stadt und insbesondere der SPD angesichts der in den letzten Jahren verstärkt zu Tage tretenden Phänomene wie Altersarmut, Krankheit im Alter und Einsamkeit vieler älterer Menschen. Die demografische Entwicklung mache auch vor Puchheim nicht Halt und viele Menschen stellten sich die Frage, ob Maschinen wohl bald die Menschen ersetzen werden.
Ob dieser Sorgen sei es ein Kernthema der SPD, die Balance zwischen Arbeit und Leben/Freizeit zu schaffen. Kinder brauchten Freiräume, um ihre Eltern im hohen Alter zu pflegen. Hier entstünden oft Konflikte mit den beruflichen Anforderungen, für die die Politik und insbesondere die SPD tragfähig(er)e Lösungen finden müsse. Zudem müsse die Attraktivität der Pflegeberufe gesteigert werden. Es fänden sich kaum noch "einheimische" Pflegekräfte, die überwiegende Zahl der Pflegenden komme aus dem Ausland, insbesondere aus Ost- und Südosteuropa.
Auch für die Puchheimer SPD ist die Pflege älterer Menschen ein wichtiges Thema. So steht in nächster Zeit der Umbau und die Modernisierung des Altenheims Haus Elisabeth an. Mehr Einzelzimmer und ein Tagespflegeangebot sollen die veränderten Bedarfe abdecken, die gestiegenen gesetzlichen Anforderungen erfüllen und das Haus zukunftsfähig machen. Auch die Idee des Mehrgenerationenwohnens soll in den kommenden Jahren in Puchheim verwirklicht werden.
Eindrucksvoll seien auch die Erfahrungen gewesen, als Bürgermeister Seidl die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Sozialdienstes Nachbarschaftshilfe Puchheim e.V. bei der Auslieferung des "Essens auf Rädern" begleitete. Er habe dabei viele ältere Menschen kennengelernt, die alleine sind und für die der Besuch der Essen-auf-Rädern-Mitarbeiter oft der einzige regelmäßige Kontakt zur Außenwelt sind. "Die Aufrechterhaltung der sozialen Versorgung ist Aufgabe der Kommune", betonte Seidl. Ihm sei zu dem ein gutes Miteinander von Alt und Jung wichtig. Die Generationen müssten sich gegenseitig stützen, schloß er sein Grußwort.
SPD-Stadt- und Kreisrätin Petra Weber, von Beruf Diplom-Sozialarbeiterin, leitete sodann zum Thema des Abends über: Pflege 4.0 - Wer bestimmt die Zukunft der Pflege?. Seit Einführung der Pflegeversicherung im Jahre 1995 und insbesondere seit Inkrafttreten des Pflegestärkungsgesetzes II in 2017 habe sich im Bereich Pflege viel geändert. Über drei Millionen Menschen in Deutschland bezögen Leistungen aus der Gesetzlichen bzw. Privaten Pflegeversicherung. Jährlich entstünden hier Aufwendungen in Höhe von rund 28 Milliarden Euro. Sehr viele Menschen seien direkt oder indirekt von Pflegesituationen betroffen bzw. berührt. "Pflege", so Weber, "ist ein Gemeinschaftsprojekt".
Wie in vielen anderen Lebensbereichen auch, so sei die Digitalisierung auch in den verschiedensten Bereichen der Pflege angekommen. Hierbei stelle sich zunehmend die Frage, ob alles, was jetzt oder künftig technisch machbar ist, aus ethischer und moralischer Sicht auch vertretbar ist. Mit dieser Frage leitete Weber dann über auf den Gast des Abends, Dr. Nora Hangel.
Dr. Nora Hangel, Philosophin und Kulturwissenschaftlerin und ab Februar 2020 tätig am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin an der Technischen Universität in München, legt den Schwerpunkt ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit eben auf solche ethischen Fragestellungen. Von 2017 bis 2019 war sie Mitarbeiterin im Projekt "Moderne Medizintechnik im Altenheim? Mediengestützte Diskurse über ein selbstbestimmtes Leben und geteilte Verantwortung im hohen Alter", kurz MoMimA. Projektpartner sind das Zentrzm für Gesundheitsethik in Hannover und JFF - Institut für Medienpädagogik in München, Praxispartner ist der Deutsche Caritasverband Landesverband Bayern e.V.
Ziel dieses Projekts ist die Auseinandersetzung von Altenpflegeschülerinnen und -schülern mit ethischen und moralischen Fragen zum Einsatz von moderner Technik im Bereich der Altenpflege. Die Pflegeschülerinnen und -schüler sollen in die Lage versetzt werden, sich aktiv in den Diskurs über diese Fragen einzubringen, Stellung zu beziehen, diese medial darzustellen und damit einen wichtigen Beitrag zur Diskussion in der Entwicklung der Technik im Bereich der Pflege zu leisten.
Wenn man sich mit dem Thema Pflege intensiver beschäftigt, sei ein Perspektivenwechsel unerlässlich, so Dr. Hangel. Es gelte, sowohl die Sicht der Pflegenden als auch die Sicht der Betroffenen und der Angehörigen in den Diskurs miteinzubeziehen. Denn es gebe durchaus sehr unterschiedliche Ansichten und Befindlichkeiten über die persönlichen Bedürfnisse des einzelnen. So könne z.B. eine ständige GPS-Ortung eines dementen Menschen für PflegerInnen und Angehörige durchaus eine enorme Erleichterung im Alltag darstellen. Dem Betroffenen selbst gefällt diese "Dauerüberwachung" aber womöglich überhaupt nicht. Gleiches gilt beispielsweise für freiheitsentziehende Maßnahmen oder für den Einsatz technischer Hilfsmittel im Pflegebetrieb. So wären beispielsweise mechanische Aufstehhilfen für die Pflegerinnen und Pfleger eine enorme Hilfe. Viele Patienten haben jedoch Angst vor diesen Maschinen und bestehen darauf, von der Pflegekraft hochgehoben oder ins Bett gelegt zu werden.
Noch mehr scheiden sich die Geister beim Einsatz beziehungssimulierender Roboter wie z.B. Paro, der Roboter-Robbe. Paro reagiert auf Bewegungen und Berührungen und kann die Mimik von bis zu 32 verschiedenen Personen erkennen. Das Gerät könne, so Dr. Hangel, auf basaler Ebene ("Kuscheltierebene") gerade demente Menschen aus ihrer Abschottung wieder ein Stück herausholen und so eine Möglichkeit schaffen, mit diesen Menschen über Paro wieder in Verbindung zu treten. Abgesehen von der Tatsache, dass diese Roboter sehr schwer und teuer seien, stelle sich aus ethischer Sicht die Frage, ob man demente Menschen mit einem Roboter so täuschen dürfe. Zudem hätten auch viele ältere Menschen Angst vor Robotern wie Paro oder würden sich vor ihnen ekeln.
Eine sehr wichtige Frage sei auch, wie sich durch den zunehmenden Einsatz der Technik die Beziehung zwischen Pflegekräften und den Patientinnen und Patienten verändert. Oftmals seien inzwischen die Altersunterschiede zwischen den Pflegenden und den zu Pflegenden erheblich. Technik, die für junge Menschen zum Alltag gehört und als hilfreich empfunden würde, schrecke viele ältere Menschen ab. Derzeit seien die meisten älteren Menschen noch sehr freundlich und kooperativ. Lacher aus dem Publikum erntete Dr. Hangel, als sie die etwas provokative Frage in den Raum stellte, wie sich dies entwickeln werde, wenn erst die Menschen aus der "Babyboomer"-Generation Pflege benötigen.
In einem Film, der von Pflegeschülerinnen gedreht wurde, äußerten sich diese auf die Frage, ob Pflegeroboter Menschen ersetzen könnten, eindeutig: "Niemals", lautete die Antwort. Nähe und Wärme, das Gefühl von Geborgenheit und Wertschätzung, könne nur von Menschen und nicht von Robotern vermittelt werden. Die Pflegeschülerinnen richteten auch Appelle an die Politik, nicht immer "um den heißen Brei herumzureden". Der Beruf müsse attraktiver werden. Viele Menschen hätten ein falsches Bild vom Pflegeberuf, er bestehe aus wesentlich mehr als nur Einlagen bzw. Windeln zu wechseln. Als besonders belastend empfänden die Pflegekräfte die personelle Unterbesetzung und die starke körperliche Beanspruchung. So seien technische Hilfsmittel wie Aufstehhilfen sehr zu begrüßen. "Technik, die die Arbeit erleichtert, ist toll. Technik, die die Menschen ersetzt, ist hingegen abzulehnen", war das Fazit.
Auffällig sei auch das Problem, dass viele Klassen in den Pflegeschulen nicht mehr voll besetzt werden könnten. Dies liege nicht an einem Mangel an Bewerberinnen und Bewerbern, sondern scheitere oftmals an zu schlechten oder gar nicht vorhandenen Deutschkenntnissen der Bewerberinnen und Bewerber. Gerade die Sprachkenntnisse seien aber im Kontakt mit den Patientinnen und Patienten unerlässlich. Auch sei die Quote derjenigen, die die Ausbildung zur Altenpflegerin bzw. zum Altenpfleger abbrechen, sehr hoch. Vielen sei bei Beginn der Ausbildung nicht bewusst, wie fordernd dieser Beruf sein kann.
Weitere wichtige Fragestellungen bei der "Pflege 4.0" sind die Themen Datenschutz und Wahrung der Privatsphäre. Dies beginne beim GPS-Tracking, bei dem der Aufenthaltsort der betreffenden Person jederzeit verfolgt werden kann, gehe über das Telemonitoring, bei dem die Vitaldaten des Patienten jederzeit gemessen und gemeldet werden und ende nicht bei der Frage, wer welche Daten für welche Zwecke sammelt und verwendet. Schon heute gebe es "Smart-4.0-Wohnhäuser", in denen sogar die Toilette mit Sensoren ausgestattet sei, die automatisch den Urin untersuche und Alarm schlage, wenn die Werte nicht im Normbereich liegen.
Eine der Fragen aus dem Publikum, die im Anschluss an den Vortrag von Dr. Hangel gestellt wurde, zielte darauf ab, wie denn im Moment die Stimmen der Pflegekräfte gehört würden. Es stellte sich heraus, dass gerade im Bereich der Pflege nur wenige Angestellte gewerkschaftlich organisiert seien. Hier läge also ein wichtiger Ansatzpunkt, um den Wünschen und Bedürfnissen der Pflegekräfte mehr Gehör zu verschaffen. Denn - auch das wurde aus den beiden präsentierten Kurzfilmen von Pflegerinnen deutlich - es liegt nicht nur an der Bezahlung, dass für viele Menschen der Pflegeberuf unattraktiv ist, sondern insbesondere auch an den schwierigen Rahmenbedingungen wie Arbeitszeiten, an den oftmals streng hierarchischen Strukturen und natürlich auch an den hohen körperlichen und psychischen Anforderungen, die diese Tätigkeit mit sich bringt.
Der Abend mit Dr. Nora Hangel konnte viele ethische und moralische Fragen rund um das Thema Pflege und Technik nur streifen und ließ sie teilweise auch unbeantwortet. Dennoch war es wichtig, diese Fragen zu thematisieren, denn sie werden uns in der Zukunft noch viel stärker als bisher beschäftigen, auch in Puchheim.
Wir danken Frau Dr. Hangel für ihren Besuch in Puchheim und wünschen Ihr für Ihre weitere Forschungsarbeit viel Erfolg.