"Ich hätte nicht gewusst, wo Eritrea genau liegt", offenbarte sich der evangelische Pfarrer Dr. Markus Ambrosy. Doch es ging nicht nur ihm so. Auch die Referentin des Abends, Katja Dorothea Buck, hätte wohl Probleme gehabt, die geografische Lage des kleinen Landes am Horn von Afrika korrekt zu beschreiben, wenn sie sich in der Vergangenheit nicht so intensiv mit dessen Geschichte und der aktuellen Situation dort beschäftigt hätte.
Der Titel der gemeinsamen Veranstaltung von Evangelischer-Lutherischer Kirchengemeinde und SPD Puchheim lautete provokant "Was geht mich Eritrea an?". Die Antwort gab Buck nach der Begrüßung und Einleitung durch SPD-Stadträtin Dorothea Sippel den rund 80 Zuhörerinnen und Zuhörern im prall gefüllten Kirchengemeindesaal umgehend: Die Eritreer stellen nach den Syrern, den Afghanen und den Irakern die viertgrößte Gruppe von Flüchtlingen in Deutschland. Gemessen an den Einwohnerzahlen ist der Anteil von Eritreern, die der oftmals ausweglosen Lage in ihrer Heimat entflohen sind, sogar deutlich höher als in den drei vorgenannten, viel größeren und bevölkerungsreicheren Ländern. Insofern geht uns Eritrea sehr viel an. Waren es in 2013 noch ca. 3.300 Schutzsuchende, die nach Deutschland gekommen sind und Asyl beantragt haben, so waren es 2014 schon rund 13.000.
Der Druck, aus Eritrea zu flüchten, ist also in den letzten Jahren deutlich größer geworden, so Buck. Inzwischen lebten nach Schätzungen wohl bereits eine Million Eritreer im Ausland. Die Zahlen schwanken oft, weil es kaum möglich ist, über das, was in dem nach außen stark abgeschotteten Land passiert, verlässliche Informationen zu erhalten. "Alles gelogen oder alles wahr", konstatiert Buck nüchtern, "dazwischen gibt es nichts", wenn man über die Lage in dem durch einen drei Jahrzehnte währenden Krieg gegen den großen Nachbarn Äthiopien stark ausgebluteten Land wahlweise mit offiziellen Vertretern des Landes oder aber mit Exil-Eritreern spricht.
Als Hauptfluchtgrund wird von denen, denen die Flucht gelingt, vor allem das sehr repressive Regime in Eritrea genannt. Nicht umsonst werde das am Roten Meer gelegene Land oft auch als das "Nordkorea Afrikas" bezeichnet. "Freiheit und Sicherheit", diese beiden Schlagworte nannte dann auch Johannes, der den Mut fand, über seine persönliche Geschichte zu sprechen, als seine zwei entscheidenden Beweggründe, aus Eritrea über eine sehr beschwerliche und gefährliche Route über den Sudan und Libyen nach Europa und schließlich nach Deutschland geflohen zu sein.
Gerade die jungen Männer wie Johannes, erläutere Buck, würden zu Tausenden aus Eritrea flüchten, weil es dort einen Wehrdienst, den sogenannten "national service" gibt, der früher einmal auf 18 Monate Dienst an der Waffe begrenzt war, der inzwischen aber die wehrfähigen Männer praktisch unbegrenzt in den Dienst des Staates stellt. Hierdurch hat das Regime maximale Kontrolle über seine Bürgerinnen und Bürger. Der karge Sold reicht kaum zum Leben und verhindert zumeist auch die Gründung von Familien, weil die jungen Männer diese nicht versorgen könnten.
Geschichtlich, so Buck, erkläre sich der "national service" aus der Tatsache, dass sich das kleine Eritrea über dreißig Jahre lang im Unabhängigkeits- bzw. Befreiungskrieg mit dem ungleich größeren und bevölkerungsreicheren Äthiopien befunden hat, nachdem es 1961 feindlich vom großen Nachbarn im Süden annektiert wurde. Erstaunlicherweise ist Eritrea, das zumindest offiziell keine Verbündeten hatte, aus dem Konflikt siegreich hervorgegangen - wenn man nach einem Krieg, der vielen hunderttausend Menschen auf beiden Seiten das Leben gekostet hat, überhaupt von einem Sieg sprechen kann.
Der Preis für diesen Sieg war jedoch hoch, denn die Befreiungsbewegung, die die Bevölkerung während des Krieges zusammenschweißte, gewöhnte sich schnell an die nach Kriegsende verbliebene Macht und ließ diese entgegen allen Versprechungen für den Aufbau eines demokratischen Eritrea nicht mehr los. Ursprünglich angesetzte Wahlen wurden nach dem Kriegsende 1991 nie durchgeführt, eine niedergeschriebene Verfassung für das Land wurde nie verabschiedet und ratifiziert, das ursprünglich beabsichtigte Bildungsprogramm wurde nie in die Tat umgesetzt, stattdessen werden die Schulen heute als Drill-Anstalten missbraucht.
Eritrea ist im Jahre 2016 ein sehr stark isoliertes, introvertiertes Land, aus dem nur wenig nach draußen dringt. Was man hört, ist schlimm: Menschen werden gefoltert, ohne Prozess ins Gefängnis gesteckt, verschwinden spurlos oder werden getötet. Eine unabhängige Presse gibt es in dem Land nicht, einer Studie zufolge belegt Eritrea von 180 Ländern, in denen der Grad der Pressefreiheit untersucht wurde, den 180. Platz (Deutschland liegt auf Rang 12). Von den vielen Journalisten, die im Jahre 2001 - bis heute ohne Gerichtsprozess und Urteil - verhaftet wurden, sitzen noch 28 im Gefängnis. Sieben sind in den 15 Jahren unter unmenschlichen Haftbedingungen bereits gestorben.
Weder Beobachter der Vereinten Nationen noch Mitglieder von Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International werden ins Land gelassen. Stattdessen befragte Exil-Eritreer berichten übereinstimmend von einem Regime der Angst, von willkürlichen Verhaftungen und dem Verschwinden von Menschen und von schweren Menschenrechtsverletzungen wie Ausbeutung und Folter. In einem Bericht wirft die UN dem Regime in Asmara (Anm.: Hauptstadt Eritreas) "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" vor. Das ist der weitestgehende Vorwurf, den die UN überhaupt gegen einen einzelnen Staat bzw. dessen Regierung aussprechen kann.
Unter den verhafteten Journalisten befand sich auch Dawit Isaak, der 1987 aus Eritrea nach Schweden geflohen war und 1993, nachdem er ein Jahr zuvor die schwedische Staatsangehörigkeit angenommen hatte, in seine Heimat zurückkehrte, um dort für die von ihm mitgegründete Zeitung Setit zu arbeiten und sich für die Presse- und Meinungsfreiheit einzusetzen. Trotz aller diplomatischen Bemühungen der schwedischen Regierung ist Isaak bis heute verschwunden. Weder die Afrikanische Union noch ein in Schweden anhängiges Gerichtsverfahren gegen den Präsidenten Eritreas, Isayas Afewerki, konnte daran etwas ändern oder zumindest etwas über den Verbleib Isaaks in Erfahrung bringen.
Auch die Religionsfreiheit in Eritrea ist mehr oder weniger starken Repressionen unterworfen. In der Theorie ist Eritrea ein säkularer Staat. Es gibt vier vom Regime offiziell anerkannte Religionsgemeinschaften: Den sunnitischen Islam, das koptisch-orthodoxe Christentum, die katholische und die evangelische Konfession. Alle anderen Glaubensrichtungen wie z.B. die Wahhabiten und Salafisten werden in Eritrea verfolgt und unterdrückt.
Doch auch die offiziell zugelassenen Religionsgemeinschaften mussten sich in der Zeit nach Kriegsende dem Druck der Diktatur beugen. Bestes Beispiel ist der frühere Patriarch der orthodoxen Kirche Eritreas, Abune Antonios. Ihm wurde 2006 aufgrund seiner kritischen Haltung gegenüber dem Regime wegen dessen Einmischung in kirchliche Angelegenheiten zunächst ein Generalverwalter vorgesetzt, was faktisch die völlige Entmachtung des Patriarchen zur Folge hatte. Die durch den Staat unter Druck gesetzte Bischofssynode startete dann ein Komplott gegen Abune Antonios, gegen das sich der Patriarch nicht wehren konnte. Seine Insignien wurden ihm weggenommen, es wurde - klar entgegen dem geltenden Kirchenrecht - ein Nachfolger zum Patriarchen ernannt und Abune Antonios wurde unter Hausarrest gestellt. Ob er heute überhaupt noch am Leben ist, ist unbekannt, denn er war während des Arrests schwer erkrankt.
Als ein Fazit kann man aus den eindrucksvollen und beklemmenden Ausführungen Bucks sicherlich ziehen, dass es - gerade für junge Männer - viele Gründe gibt, aus Eritrea zu fliehen. Die Gefahren, die auf dem Weg nach Europa auf die Flüchtlinge lauern, können diese nicht abhalten. Denn in Eritrea warten nur völlige Perspektivlosigkeit, Armut, Ausbeutung oder Schlimmeres auf sie.
Die meisten Menschen, die ihre Heimat verlassen, wissen sehr wohl um die enormen Risiken der Reise nach Europa. Es müssen zerrüttete, unsichere Staaten wie der Sudan und Libyen durchquert und in vielen Fällen das Mittelmeer mit kaum seetauglichen und völlig überfüllten Booten überwunden werden. Schätzungen zufolge sind mindestens 50.00 Eritreer auf ihrem mörderischen Weg in Foltercamps auf der ägyptischen Sinai-Halbinsel gelandet, wo sie unter menschenunwürdigen Bedingungen festgehalten werden, bis jemand das geforderte Lösegeld bezahlt. Um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, werden die Geiseln oftmals auch gefoltert, während sie mir ihren in der Heimat verbliebenen Verwandten telefonieren. Doch weder solche Schreckensszenarien noch Schiffskatastrophen wie die vor der italienischen Insel Lampedusa im Jahre 2013 können die Menschen davon abhalten, auf der Suche nach Frieden, Freiheit und Sicherheit ihr Leben zu riskieren.
In der Diskussion mit den zahlreichen Zuhörern wurden dann noch einige interessante Aspekte und Fragen beleuchtet. So äußerte ein Zuhörer seine Zweifel daran, dass Eritrea ganz ohne Hilfe von außen den Krieg gegen Äthiopien gewinnen konnte. Es müsse hier auch Kräfte gegeben haben, die das kleine Land finanziell und ausrüstungstechnisch versorgt haben. Zwar verfügt das stark landwirtschaftlich geprägte Eritrea über einige wenige Industriesparten und über Einnahmen aus dem Abbau von Gold und anderen Metallen. Aber dass das immer wieder auch von schweren Dürreperioden und Versorgungsknappheit gebeutelte Land einem eigentlich übermächtigen Gegner wie Äthiopien über einen Zeitraum von 30 Jahren ohne fremde Hilfe hätte standhalten können, wollte der Zuhörer nicht glauben.
Ein anderer Zuhörer fragte sich, welche Perspektive es denn für Eritrea überhaupt geben kann, wenn eine Einflussnahme von außen praktisch kaum möglich ist, weil sich das Land nach wie vor stark abschottet. Er kam zu dem Fazit, dass eine Systemänderung wohl nur von innen heraus gelingen kann, wobei die Exil-Eritreer für eine solche "Revolution von unten" eine sehr wichtige Rolle spielen müssen.
Dass die Verhältnisse in Eritrea nicht auf Ewigkeit in Stein gemeißelt sein müssen, zeigte ein Hirtenbrief der katholischen Bischöfe Eritreas mit dem Titel "Wo ist Dein Bruder?", der bei den Menschen, die oftmals viele Familienmitglieder verloren haben oder bei unklarem Verbleib vermissen, großen Widerhall gefunden habe. Es wird ein sehr mühsamer, steiniger und gefährlicher Weg, Eritrea aus seiner Isolation zu führen und im Inneren demokratische und rechtsstaatliche Strukturen zu errichten, die die Freiheitsbewegung nach Kriegsende versprochen, aber nie realisiert hatte.
Aber am Beispiel des Hirtenbriefs sieht man, dass das zarte Pflänzchen namens Hoffnung auch in sehr unwirtlichen, lebensfeindlichen Regionen gedeihen und nicht einmal in einem Land wie Eritrea ausgerottet werden kann. Ein doch irgendwie tröstliches Fazit an einem ansonsten nicht leicht zu verarbeitenden Abend, nach dem man das Gefühl hat, dass Eritrea eben nicht das "vergessene Land am Horn von Afrika" ist, sondern ein Staat, der - wie viele andere auf dieser Welt leider auch - von wenigen in Geiselhaft genommen wurde und der darauf wartet, von den Menschen, die dort oder in anderen Teilen der Welt leben, befreit zu werden.
Wir bedanken uns an dieser Stelle bei der Referentin Katja Dorothea Buck, bei allen Zuhörern und Diskutanten, bei den zahlreichen Eritreern, die den Informationsabend besucht haben und bei der Evangelisch-Lutherischen Kirchengemeinde und allen voran bei Pfarrer Dr. Markus Ambrosy für die Gastfreundschaft und den Mut zu dieser gemeinsamen Veranstaltung.